»Warum?« gilt als »ultimative Frage« (welche, in der gleichnamigen Agentenserie von »Nummer 6« an den Supercomputer gestellt, zu dessen Zerstörung führt). Sofia Gubaidulina stellt sie mit ihrem Stück (zu dessen Auftraggebern die Staatskapelle gehört) für Flöte, Klarinette und Streichorchester, offenbar jedoch nicht, um den Zuhörern eine passende oder glaubwürdige Antwort zu präsentieren, sondern um zur Auseinandersetzung anzuregen. Warum? Deutungsansätze zur (Auf-)Lösung lassen sich ins Werk interpretieren, wenn beide Solisten beispielsweise im Dialog schöne Melodiebögen formen, als Erwiderung quasi auf den Stimmungsteppich des Orchesters zusammenfassende Worte zu finden scheinen, doch werden diese Episoden immer als vermeintlich entlarvt, stets kommt es zur Zurücknahme, Infragestellung der »Antwort« oder zu Verwerfungen anderer Art.
Zu Beginn entwickeln die Streicher aufwärtsstrebende, sich wiederholende Stufungen, die Soloinstrumente setzen dialogisch ein, wobei die Solisten immer wieder zwischen dem »normalen« und dem Baßinstrument wechseln. Nach dem ersten Dialog setzen die Streicher ihre »Grundierung« fort, nun mit Dreiklängen. Sofia Gubaidulina hat viele Reizpunkte in ihr Konzert gearbeitet, tauscht oft die herkömmlichen Stimmregister (Flöte tiefer als die Klarinette, tiefe Streicher im Flageolett). Das Orchester formt Stimmungen, scheint zu mäandern (zu suchen), hat nur vereinzelt Soli (Viola). Meist weben Gruppen eigene Stimmungsgebilde, spielen sie gleichzeitig oder auch einzeln. Zwar gibt es etwa in der Mitte einen Kulminationspunkt, doch wird auch dieser wieder aufgelöst. Die Musik der Streicher lebt weniger von Motiven als von Elementen, die wiederholt, variiert und entwickelt werden (Dreiklang, Vierklang etc.). In der zweiten Hälfte scheinen die Stimmen, auch der Solisten, immer einzelnstehender, einsamer, die Effekte drastischer (auf die Saiten geschlagene Kontrabässe als Schlagwerk), das Werk beschleunigt weiter, schließlich ist es die Flöte, die sich klar und hell am deutlichsten abzeichnet. Zwar vereinigen sich Flöte und Klarinette noch einmal zu einem Schlußwort, doch auch dieses hat keinen Bestand – das Werk verlischt in den Streichern.
»Verkopft« könnte man hier einwenden, und in der Tat spricht Sofia Gubaidulinas Stück vor allem den Kopf und erst dann das Gefühl an. Zunehmend wird dabei aus »Warum?« auch ein »Wohin?« Mit einer Länge von einer halben Stunde fordert die Komponisten ihren Zuhörern einiges ab – warum auch nicht? Ein Stück, das eine Frage in den Mittelpunkt stellt, fordert zur Auseinandersetzung auf. (Worum uns schon der aktuelle Capell-Virtuos Gidon Kremer bat, als er mahnte, nicht gleichgültig zu sein.)
Trotz (oder gerade wegen) offener Fragen wurde das Stück der Capell-Compositrice positiv aufgenommen, was nicht zuletzt den hervorragenden Solisten Sabine Kittel und Christian Dollfuß sowie Dirigent Andres Mustonen zu verdanken ist, der die Elemente klar herausarbeitete, abgrenzte, schweben ließ.
Beschaulichkeit war wohl nicht Mustonens Ziel, auch nicht in den »Rahmenstücken« des Abends: Antonio Rosettis Sinfonia g-Moll und Franz Schuberts zweiter Sinfonie. So gedrängt, bewegt und gejagt hat man diese selten gehört! Pure Lebendigkeit versprühte da die Staatskapelle, schien Schuberts erster Satz als Ouvertüre noch viel mehr zu versprechen. Erstaunlich, wie klar dabei Details ausgeformt wurden, schön, wie Andres Mustonen mit kurzen Pausen die Sätze band, doch hätte man sich mehr Verweil- und Entfaltungszeit gewünscht! Rosettis belebtes Andante (ma Allegretto) hatte kaum einen Hauch Andante, Schuberts Menuetto (Allegro vivace) geriet fast zum Marsch. Warum?
21. April 2015, Wolfram Quelmalz