Vom Chor beflügelte Kompositionen

Jubiläumskonzert des Dresdner Kammerchores mit vier Uraufführungen

Die Auftragswerke für das vierte Jubiläumskonzert des Dresdner Kammerchores in der Dreikönigskirche trugen nicht allein zum Anlaß bei, sondern spiegelten auch das Bestehen des Ensembles in den letzten dreißig Jahren wider. Denn jeder der Komponisten ist früher dessen Mitglied gewesen oder gehört heute noch dazu. Ebenfalls eine Besonderheit: für die Kollegen schreiben und mit ihnen die eigenen Noten singen.

Mit dem Auftrag vorgegeben wurde neben einer ungefähren Werklänge das Thema »Dresdner Stimm/ung/en«. Schon die Texte des Programmheftes und die kurzen, von Chorleiter Hans-Christoph Rademann geführten Komponistengespräche zeigten, daß alle vier Werke vom Thema inspiriert sind und der pragmatische Zwang einer Zeitvorgabe keinen hemmenden Einfluß hatte. Im Konzert tauchten Chor und Zuhörer am Donnerstag in ganz verschiedene Klang- und Erlebniswelten ein – Töne und Texte prägten stark unterschiedlich die Werke.

Am experimentellsten war sicherlich Peter Motzkus‘ »Motette #3«, in welcher er einen Liedtext (»Ich bleib‘ wie die eine Hälfte einer zerrissenen Umarmung«) der Künstlerin Dota verarbeitet hat, mit dem er den Chor aber durch gewollte technische Irritation auch auf die Probe stellt: Motzkus, der zu den aktuellen Ensemblemitgliedern zählt, erlebt das aufeinander hören immer wieder als elementaren Bestandteil des Chorlebens und nahm den Sängern durch über Ohrhörer eingespielte Töne gerade diese Fähigkeit – das Risiko des Scheiterns, so antwortete er auf die entsprechende Frage, sei im Stück durchaus inbegriffen. Den Chor wandelte er zum Klanginstrument und entfernte sich am weitesten vom traditionellen Vokalgesang. So ist seine Fuge theoretisch – in der Notation – wohl schon eine Fuge, für den Zuhörer war dies kaum noch nachzuvollziehen.

Der Abend hatte mit Alexander Keuks »KAN KUN« bereits ungewöhnlich begonnen. Im ersten Teil verarbeitet der Komponist ein Internetskript, in dem Einträge von Pegida-Facebook-Seiten gesammelt werden. Im Schauspiel gibt es mehrere Ansätze, dieses Zeitgeschehen aufzunehmen, doch kann man solche Haß-Botschaften in Musik umsetzen? Alexander Keuk, dessen Werke sich im Kern immer wieder auf den Inhalt von Texten beziehen, hat diesen kontroversen Ansatz, eine Dresdner Stimmung aufzunehmen, bewußt gewählt. Ihm folgt im zweiten Teil die via Twitter verbreitete Aussage des französischen Premierministers Manuel Valls »Wir sind im Krieg…«. Die »Schlagkraft« des knappest möglichen Statements konterkariert Keuk durch langsame Tempi und verharren auf den Worten. Und auch das abschließende chinesische Gedicht verwendet er nicht als Botschaft, sondern wandelt es, bezieht das im Text enthaltene Idyll auf die Realität. Plötzlich vermeint man den Beginn der »Unsterblichen Opfer« zu hören. Keuk löst den Trauermarsch aber auf und gibt dem aufsteigenden Dreiklang eine neue, offene Bedeutung: ist das Hoffnung oder Trug?

Alle vier Komponisten verwendeten Eigen- und Fremdzitate, schaffte somit Bezüge auf sich und die Musikgeschichte. Silke Fraikin, die einst Gründungsmitglied gewesen ist, hat aus unterschiedlichen Texten, die sie zum Teil für ihr Werk übersetzen ließ, »Nachtgesänge für gemischten Chor« entstehen lassen. Die Verse läßt sie jedoch nicht in Zeilen singen, sondern über einer Vokalen Grundierung »ablaufen«, wobei sie durch Lücken, Rückungen und Betonungen Schlüsselworte wie »Wasser«, »Schweigen«, »Nacht« und »Schatten« hervorhebt. Während Fraikin harmonisch und im Klang der »Grundierung« auf die Tradition von Brahms und Schumann zurückgeht, verankert sie ihr Werk durch Einleitungen, Vokallaute und Hervorhebungen in unserer Zeit.

Auch bei Karsten Gundermann waren die Bezüge zur Musiktradition zunächst deutlicher als in der ersten Konzerthälfte. Seine Vertonungen von Sonetten Andreas Gryphius‘ beginnen polyphon, entfernen sich dann mehr und mehr vom gewohnten. Immer freier wird sein Werk, rhythmisch betonter, wogender und fremder, wobei Gundermann die fremden Elemente nicht aufeinanderprallen läßt, sondern seine Musik damit bereichert. In der Synthese von Text und Musik ist seine »Gryphiade« wohl das eingängigste der vier Werke gewesen.

Eingängigkeit oder gar Verwertbarkeit sollen hier aber keine Maßstäbe sein. Vielmehr zeugte der Abend von der Nachhaltigkeit der Chorarbeit, der Reflektion, hat ebenso eine essentielle Qualität des Dresdner Kammerchores vorgeführt: die Fähigkeit, sich gemeinsam auf neues einzustellen und Werke zu erarbeiten, mit konstruierten »Hörblenden« umzugehen und zu bestehen. Vielleicht klang nicht alles »schön«, was zu hören war, doch sollten »Dresdner Stimm/ung/en« das Unschöne keineswegs ausschließen. Angesichts der Fülle und Anforderung der Werke war es beeindruckend, wie wandelbar und (viel)stimmig – auch in den Stimmungen – sich der Dresdner Kammerchor zeigte.

12. Februar 2016, Wolfram Quellmalz

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