Myung-Whun Chung und die Staatskapelle stellen das Programm auf den Kopf
Neue Wege gehen oder neues wagen ist derzeit sehr in Mode, auch im Konzertbetrieb. Dabei sollte man sich eigentlich hüten, wahllos alles umzustoßen, was überliefert wurde. Schließlich ist die übliche Konzertform aus Ouvertüre, Konzertstück und Sinfonie kein zufälliges Resultat oder das einer Willkür, wozu seither niemandem etwas Besseres eingefallen wäre. Der Ablauf birgt zum Beispiel eine Steigerung – die Sinfonie gilt nach wie vor als Königsgattung der klassischen Musik. Warum diese Reihenfolge im 7. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle verdreht wurde, bleibt unklar, ein offensichtlicher Grund war nicht zu erkennen. Es war ein wenig, als würde erst die Königin gekrönt und dann gäbe es die Begrüßungsrede. Und an Rolando Villazón, der gern einmal die Dinge auf den Kopf stellt, lag es wohl sicher nicht. Bevor er dem Publikum – ob auf den Füßen oder auf dem Kopf – seine Fassung von Vincenzo Bellinis »La sonnambula« präsentiert (Premiere am 19. März), besuchte der Tenor und Regisseur das Konzert am Sonnabend in der Semperoper.

Tief versunken: Myung-Whun Chung dirigiert Brahms, Photo: Sächsische Staatskapelle Dresden, © Markenfotografie
Die verdrehte Welt sorgte nicht nur für einiges Erstaunen oder Unverständnis, sie hatte dazu einen klaren Verlierer: Tschaikowski. Sein effektvolles Klavierkonzert, das dem Solisten eine glänzende Bühne bereitet, offenbarte nach Johannes Brahms, einem Meister der Entwicklung musikalischer Themen, einen Spannungsabfall. Und das hatte zunächst vor allem damit zu tun, daß Brahms eben die Königsgattung beherrschte, während Tschaikowskis Konzert nicht zuletzt auch eine zirzensische Vorführung ist.
Myung-Whun Chung, Erster Gastdirigent der Sächsischen Staatskapelle, hat sich in den letzten Jahren nach Mahler nun Brahms zugewandt. Zuletzt erschien eine CD mit dem ersten Klavierkonzert und den Sechs Klavierstücken Opus 118. In dieser Woche starten er und Pianist Seong-Jin Cho zu einer Gastspielreise nach Südkorea, wo unter anderem alles vier Sinfonien Johannes Brahms‘ gespielt werden. In Dresden kam die dritte zur Aufführung, jene heitere, gelöste, in F-Dur. In der Auseinandersetzung mit Brahms hat Chung, so scheint es, eine neue Stufe erklommen. An Genauigkeit und Detailorientierung bestand schon bisher kein Mangel, doch die Sinnlichkeit, mit der er das Werk nun präsentierte, gab es bisher in dieser Intensität noch nicht. Auch das energetische Dirigat im ersten Satz war ungewohnt – doch war dieser Brahms kein bißchen gedrängt, sondern frei, schien Wogen zu glätten. Herrlich geriet das Unisono von Klarinetten und Fagott, später schienen Flöten und Oboen über Wellen zu hüpfen. Im zweiten und dritten Satz dann erlebte man Myung-Whun Chung, wie man ihn kennt, mit sparsamen Gesten, oft nur Andeutungen. Sie genügten offenbar, dem Andante die schönste Gelassenheit, im Poco Allegretto Eleganz (Hörner) hervorzukehren. Im Finale flossen Brahms‘ Ströme in ein schwärmerisches, mitreißendes Amalgam – in der klaren Konturierung blieb sich Myung-Whun Chung dabei treu – superb! Dafür gab es großen Jubel und viel Beifall.
Den erhielt am Ende auch Pianist Seong-Jin Cho. Der Südkoreaner, Chopin-Preisträger von 2015, hatte Peter Tschaikowskis erstes Klavierkonzert nicht nur gemeistert, sondern durchstürmt. Ob Läufe oder Sprünge – die Technik, mit der er dies beherrschte, nennt man stupend – verblüffend! Nur hat er das eben effektvolle Stück mehr vor- als aufgeführt, nach einem Ausdruck kaum gesucht. Daß Seong-Jin Cho den Begin beherzt nahm, war zu erwarten – das machen viele. Nur leider behielt er sein fast hämmerndes Stakkato bei, wußte dies kaum zu bändigen, selbst im elegischen Andantino blieb das Klavier dominant. Somit liefen die kleinen Dialoge oft ins leere, nur einmal im ersten Satz fand der Pianist zu einem Korrespondieren mit Flöte und Horn. »Virtuos« ist bekanntlich von virtus (Tugend) abgeleitet. Die Tugenden der sensiblen Werkausdeutung zumindest blieb Seong-Jin Cho dem Publikum schuldig.
Zirzensik ist heute jedoch Teil der Klassikshow und findet reichlich Applaus. Zum Anfang, zumindest zu Brahms, kehrte der Pianist in diesem verdrehten Konzert zurück mit dem Capriccio Nr. 2 aus Opus 76.

CD-Tip: Johannes Brahms, Klavierkonzert Nr.1, Klavierstücke Opus 118, Staatskapelle Dresden, Myung-Whun Chung (Dirigent), Sunwook Kim (Klavier), erschienen bei Accentus
Vom 2. bis 8. März geht die Sächsische Staatskapelle auf Gastspielreise nach Südkorea. Sechs Konzerte stehen in Seoul und Incheon auf dem Programm, wobei neben Tschaikowski alle vier Sinfonien von Johannes Brahms sowie Franz Schuberts siebente Sinfonie (h-Moll, D 759) und Carl Maria von Webers Freischütz- Ouvertüre erklingen werden.