Vor Beginn der Schostakowitsch Tage Gohrisch: Gidon Kremer und die Kremerata Baltica in der Semperoper

Eigentlich hatten sich die Kremerata Baltica und der Gründer und Leiter des Orchesters mit einem Portraitkonzert »All about Gidon« vorstellen wollen. Doch der amtierende Capell-Virtuos Gidon Kremer hatte sich entschlossen, im Hinblick auf den Konflikt in der Ukraine das Programm vollkommen neu zu gestalten. Rußland habe ihn geprägt, sagt Kremer, der die aktuelle Entwicklung mit Sorge beobachtet. »Mein Rußland« – wie der Titel des Abends nun lautete – habe ihn aber auch musisch gefärbt, er liebe es und wollte diese Seite Rußlands gerne zeigen. Dem Westen wiederum wirft er vor, daß seinem Bemühen um einen Kompromiß im Grunde egoistische Motive zugrunde liegen.

Im Rahmen des Konzertes sollte ein Gespräch mit Gidon Kremer und Leonid Desyatnikov helfen, Thema und Sichtweisen zu verdeutlichen. Der Stoff bzw. die Diskussion hätte eigentlich eines eigenen Abends bedurft und ist vielleicht nicht von allen Konzertbesuchern in allen Punkten verstanden worden. Doch wie auch? Schließlich ist unsere Sicht schon vorgeprägt. Doch auch wenn wir von der Richtigkeit unserer Maßstäbe überzeugt sind, ist eine Einteilung in schwarz und weiß, in gut und böse, hier wohl nicht angemessen. Wir sind es gewohnt, den Ort des Konfliktes genau zu kennen und zielgerichtet nachzufragen, kennen die Schuldigen, doch die Reaktionen Leonid Desyatnikovs haben gezeigt, daß sein Erleben mit unserer Vorstellung nicht in allen Punkten übereinstimmt, auch wenn ihn dieselben Ereignisse erzürnen, betrüben oder erschüttern wie uns. Das erinnerte mich an ein kurzes Radiointerview mit Wladimir Kaminer zu Beginn der Ukraine-Krise. Wenige Tage vor dem damaligen Referendum zur Frage der Krim-Zugehörigkeit wurde Wladimir Kaminer gefragt, wohin denn seiner Meinung nach die Krim nun gehen würde. Seine Reaktion verblüffte zunächst, denn er fragte zurück, wohin die Krim denn gehen solle. Die Krim sei eine Halbinsel und bliebe dort, wo sie war. War das satirisch, humorvoll, war er zornig über die deutsche Frage? Auch dies ist wohl Teil der »russischen Seele« (mit der Frage danach, was diese sei, hatte das Gespräch begonnen), das Empfinden des Lebens, ohne eine allgemeingültige, richtende Position anzustreben, wie wir es oft kennen. Es war ja auch nicht Ziel des Abends, eine gemeinsame Meinung zu postulieren oder eine Petition zu verfassen. Gidon Kremers Aufforderung, dem nicht zu glauben, der weiß, wie es geht, sollten Warnung davor sein, allmächtigen Richtern zu vertrauen. Im Kern kam es ihm (Kremer) nicht darauf an, mit seinem Konzert die Welt zu verändern, sondern darauf, in seiner Sprache der Musik dazu beizutragen, daß sich Menschen mit etwas, auch mit sich selbst, auseinandersetzen. Auseinandersetzung sei eine wichtige Grundlage, bessere Entscheidungen zu treffen. Wir sollten darauf achten, niemals gleichgültig zu sein.

Musikalisch hatte Gidon Kremer den Abend mit Stücken der »russischen Seele« bereichert. Auch die derzeitige Capell-Compositrice Sofia Gubaidulina (welche im Publikum saß) hatte er mit ins Programm aufgenommen. Ihr Streichquartett »Reflexionen über das Thema B-A-C-H« hatte Gidon Kremer für seine Kremerata Baltica bearbeitet. Das Stück beginnt mit schrillen Akkorden und Tonfolgen der Celli, die gemeinsam mit den anderen Streichern ein Thema zu suchen scheinen. Einer Steigerung bis fast ins Kreischen folgte ein stufenweises Absteigen durch die einzelnen Streichergruppen. Erst dann geben die Bässe beruhigende Klänge vor, beginnen Violinen und Viola solistische Melodiebögen zu singen. Langsam entgleitet die Musik in einer verhauchenden Melodie »Ach dahin…« scheint sie zu singen, nur unterbrochen von hart gerissenen Celli. Nur wenige Minuten lang ist diese Suche nach Bach.

Als zweites Stück wurden Leonid Desyatnikovs »Russische Jahreszeiten« gespielt. An Vivaldi denkt man natürlich bei diesem Titel, und auch die Struktur (vier Teile mit je drei Sätzen) entsprach dessen Werk – mehr jedoch nicht. Vor allem enthalten Desyatnikovs »Jahreszeiten« Gesangstexte, eigentlich für Sopran geschrieben, aber wunderbar warm und glänzend vorgetragen von der Mezzosopranistin Olesya Petrova. Sie gab mit ihrer dunklen Stimme dem ganzen Werk etwas düsteres, unfaßbares. Die Instrumentalsätze hingegen setzen sich jeweils aus volkstümlichen Melodien (Desyatnikov hatte auf alte Volkslieder und -sagen zurückgegriffen) und Tangorhythmen zusammen (zuvor hatte der Komponist, ebenfalls für die Kremerata Baltica, »Die vier Jahreszeiten in Buenos Aires« geschrieben). Jeder Satz hat einen Titel, den man direkt oder indirekt auf einen Monat zurückführen kann. Da das Stück mit dem Frühling beginnt, entspricht diese Satzfolge also auch nicht Januar bis Dezember, sondern März bis Februar. Die Texte wiederum sind voller Tragik und Schwermut und scheinen so gar keine Hoffnung auf irdisches Glück zu enthalten. Selbst der Kuckuck klang einsam und verfremdet. Tragisch? Gidon Kremer charakterisierte die Schwermut russischer Musik später im Gespräch als typisch. Doch ist sie wirklich so schwermütig und hoffnungslos? Mich erinnerte dies an Anton Tschechow, dessen »Drei Schwestern« im kommenden Monat Premiere am Dresdner Staatsschauspiel feiern werden. Tschechow hatte sich einst erzürnt darüber gezeigt, daß seine Werke – auch im Westen – nicht verstanden würden, es seien keine Tragödien, sondern Komödien (gemeint war auch »Der Kirschgarten«). Russische Seele – vielleicht für uns einfach auch ein wenig unfaßbar.

Nach dem Gespräch folgte zunächst Mieczysław Weinbergs Kammersinfonie Nr. 2. Der drängende, gedrängte Charakter erinnert zuweilen an Schostakowitsch, Glanzstück ist wohl der zweite Satz, der vom Menuett über einen Walzer bis zum Marsch reicht, jedoch nie ganz »richtig« klingt, sondern immer ein wenig neben der Harmonie zu liegen, immer ein wenig aus dem Tritt zu kommen scheint. Gidon Kremer hat ein fabelhaftes Orchester zusammengestellt, mit Spitzenstudenten, die er fördert. In dieser kleinen Besetzung ist beinahe jeder ein Solist, doch nicht kalte Perfektion wird hier erreicht, sondern bis ins Detail ausgefeilte, farbenreiche Musik.

Doch – und auch dies hatte Gidon Kremer schon angekündigt – nicht alles war und ist düster in Rußland und russischer Musik. Beweis dafür war ein raffinierter Abschluß des Konzertes mit Alexander Raskatovs »The seasons digest«, auch dies übrigens eine Komposition für die Kremerata Baltica. Raskatov hatte Peter Tschaikowskys Klavierzyklus »Die Jahreszeiten« zugrunde gelegt, jedoch verkürzt (»digest«), teilweise nur die Themen übriggelassen, und verfremdet. Dies jedoch mit Witz, Geist und Humor, oder, um noch einmal Gidon Kremer zu Wort kommen zu lassen: das Stück klingt wie eine alte, defekte Spieluhr. Das ursprünglich im wahrsten Sinne des Wortes tonangebende Instrument, das Klavier, tritt hier nur noch in präparierter Form in Erscheinung und eröffnete die »Jahreszeiten« tatsächlich mit dem Klang einer defekten Spieluhr. Anschließend ging es munter durch alle zwölf Sätze und den Zauberkasten der Ironie – da schlugen die Bässe gegenseitig auf die Saiten Ihrer Instrumente, da flüsterten die Musiker oder sangen im Chor (sich dabei in drei Stufen bis zum Brüllen steigernd), spielten mit Zimbeln oder gebrauchten ihre Violinen als Balalaiken. Ganz zum Schluß verharrten sie dann, nicht in Ruhepositionen, sondern in Spielhaltung, nur noch vom Band kommt die Musik, die Spieluhr ist defekt. Auch das gehört wohl zur »russischen Seele«: sich über das (nicht im religiösen Sinne) heiligste, also auch die Kunst Peter Tschaikowskys, lustig zu machen und sie zu persiflieren – eine liebevolle Verunglimpfung.

So viel Gedanken, so viel schöne Musik, da waren Publikum und Musiker auch nach über zweieinhalb Stunden noch bestens aufgelegt. Zur Belohnung gab es ein Stück Filmmusik: Mieczysław Weinbergs »Die Ferien des Bonifazius« (im Trickfilm ein Löwe) – ein launiger Abschluß!

Wohl dem, der sich mit Musik, mit etwas, mit sich, auseinandersetzt. Und daß wir niemals gleichgültig werden!

19. September 2014, Wolfram Quellmalz

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