Matthias Goerne und Leif Ove Andsnes im Gewandhaus zu Leipzig
Kein Winter ohne »Winterreise«, aber auch kein Liedsänger, der sich nicht an Franz Schuberts genialem Zyklus messen lassen wollte oder müßte. Am Dienstag waren Matthias Goerne und Leif Ove Andsnes im Leipziger Gewandhaus zu Gast, dessen Großer Saal bestens besucht war – übrigens auch von erfreulich viel jungem Publikum. Solche Magneten muß man nutzen, das Gewandhaus tat es – schön!
Dennoch muß man bedenken, daß der Liederabend eigentlich einen intimen Rahmen verlangt, den der Große Saal natürlich nicht bieten kann. Hinzu kommt, daß der Raum – vor allem vom Sänger – auch musikalisch, also mit Klang, »gefüllt« werden muß. Matthias Goerne tat dies, doch leider waren die Hilfsmittel, derer er sich bediente, auch spürbar. Mit vibratoreicher Stimme und fast immer in Bewegung, sich hierhin und dahin wendend, ruhelos wandernd, versuchte der Bariton, sein Publikum zu erreichen. Dies hatte jedoch auch eine ungleiche Klangverteilung zur Folge und ging auf Kosten der Verständlichkeit – weiter außen sitzende Zuhörer waren hier wohl mehr im Nachteil.
Mit Leif Ove Andsnes, der auch das Große Concert in der kommenden Woche bestreiten wird (Klavierkonzert von Robert Schumann, außerdem Werke von Henri Dutilleux und Jean Sibelius, Dirigent: Alan Gilbert) ist ebenso wie Matthias Goerne ein versierter Schubertexeget, sowohl dessen Sonaten und Fragmente betreffend als auch die Liedbegleitung, zum Beispiel an der Seite Ian Bostridges. Matthias Goerne wiederum hat sich nicht nur in Schubert vertieft, sondern formt ihn ständig neu, nimmt Anregungen auf. So war er auch schon mit Orchesterfassungen von Liedern zu erleben, und für seine Konzerte und Aufnahmen bevorzugt der Sänger im Gegensatz zu vielen Kollegen keinen festen Partner. Nach dem Abschluß seiner Schubert-Edition bei Harmonia Mundi, bei der ihm Pianisten wie Elisabeth Leonskaja, Alexander Schmalcz oder Christoph Eschenbach zur Seite saßen, nun also Andsnes.
Und dieser zeigte sich als erfahrener Gestalter, formte Stimmungen, mischte dem »Rückblick« auch heftigen Zorn bei, ließ den Frühlingstraum grummelnd ausklingen und schuf in der »Täuschung« frostige Einsamkeit und greifbares Elendsein. Überhaupt ist Andsnes ein Pianist, der Kontraste aus Textbezügen schärfen kann. Matthias Goerne eroberte den Saal zunächst mit auch Kraft, doch schon in den ersten Liedern überzeugten die Wechsel in Stimmung, Lage oder Dynamik, die er spielerisch elegant und ohne Brüche bewältigte. Wohl aus akustischen Gründen hatten die beiden Künstler ein mäßiges, zuweilen sehr langsames Tempo gewählt, auch Pausen wirkten, wie im »Irrlicht« arg gedehnt. So war es schließlich auch eine im Zeitmaß recht gedehnte »Winterreise«. (Doch soll das Zeitmaß hier nur eine untergeordnete Rolle spielen.)
Gerade die Wechsel und Hervorkehrungen waren es, die dem Duo Goerne-Andsnes hervorragend gelangen, ohne daß diese aufgesetzt geklungen hätten. Wenn der Wanderer »Auf dem Flusse« sinnierte, enthielt das vor allem eines: Sehnsucht, während sich in der »Täuschung« schlicht Einsamkeit und Frost Bahn brachen und jede Hoffnung nur wie Wunsch und Traum erschien. Wunderbar gelangen auch die Übergänge einzelner Titel, wie von »Die Post« über »Der greise Kopf« zu »Die Krähe« oder dem Abschlußtrio »Mut«-»Die Nebensonnen«-»Der Leiermann«. Überhaupt besteht immer ein wenig die Gefahr, sich an Matthias Goernes Stimme zu berauschen…
In der zweiten Abteilung hatten Sänger und Pianist noch besser, tiefer, zueinandergefunden, und so war es bedauerlich, als am Ende mit dem »Leiermann« die Winterreise aufhörte, nein, nicht aufhörte, sie verlosch. Lange war Stille im Großen Saal, bevor der Applaus losbrach.
16. Februar, Wolfram Quellmalz