Alfred Brendel »Die Dame aus Arezzo«
Daß es nach dem Rücktritt von der Pianistenbühne vor nunmehr fast genau zehn Jahren ruhiger geworden wäre um Alfred Brendel, kann man beileibe nicht behaupten. Zwar wird er auf den Podien schmerzlich vermißt, ist jedoch weiterhin sehr viel präsenter als durch Aufnahmen, auch solche, die gerade erst veröffentlicht werden (wir haben seine jüngste CD hier vorgestellt: https://neuemusikalischeblaetter.wordpress.com/2018/05/24/wanderer-am-klavier/), allein.
In Vorträgen und Lesungen kann man Alfred Brendel weiterhin erleben. Von seiner Umtriebigkeit, seiner zielgerichteten Neugier und nimmermüden Unruhe zeugt seit Mai sein neuestes Buch: »Die Dame aus Arezzo« zeigt schon auf dem Titel eine Figur, eine Holzpuppe aus dem Barock, wie sie einst Schneidern gedient haben mag, die jedoch weder eine schlichte Verkörperung der Anmut ist noch Kleider trägt – aber ein Ei auf dem Kopf! So wie sich im Bild scheinbar gegensätzliche Attribute verbinden, das Grazile mit dem Grotesken etwa, verknüpft der Pianist als Musiker, Essayist und Kunstliebhaber in seinen Texten Sinn und Unsinn, oder, wie der Untertitel verweist, »Unsinn und Musik«. Was aber nicht bedeutet, daß dies alles beliebig miteinander vermengt und eine Mélange angerührt werden kann (Alfred Brendel: »Wer in meinem Klavierspiel den Dadaisten sucht, hat sich in der Tür geirrt.«)
Es gibt Portraits, deren Blicke dem Betrachter überallhin folgen. Die Dame aus Arezzo weicht ihm überall aus. Sie hat offene Augen, aber sie sieht den Betrachter nicht. Lebhaft schaut sie nach innen, in ihre persönliche Welt, in das Ei auf ihrem Kopf. Unter der Taille beschränkt sich das Wesen auf ein langbeiniges Holzgestell, dessen Abstraktheit mysteriös auf das Gesamtbild einwirkt, als hätte Giorgio de Chiricio seine Hand im Spiel. Undenkbar profan wäre es, hier einen Frauenleib vorzufinden! Dem Eindruck des Kopfes durfte nichts im Weg stehen.
In fünf Essays bzw. Kerntexten blickt Alfred Brendel auf sein musikalisches Leben zurück, reflektiert über Fragen zu »Haydns ›Sieben letzte Worte‹«, »Musik: Licht und Dunkel« sowie »Winterreise« (Schuberts natürlich), bekennt allerdings auch: »Ich werde nie eine [Autobiographie] schreiben, dazu bin ich zu wahrheitsliebend«.
In meinen jungen Jahren hatte ich die Vorstellung einer Kugel, innerhalb welcher alle Gegensätze so angeordnet waren, dass die Mitte der Kugel mit allen Mittelpunkten aller Gegensätze zusammenfiel – man könnte sie das vollkommene Nichts nennen, oder Gott. Mit den Gegensätzen zu leben und Balance zu halten scheint mir immer noch ein nobles Ziel.
Gleich zu Beginn jedoch frönt Brendel einem seiner Lieblingsthemen: dem Dadaismus. Ein ganzes Panoptikum der Objekte und Aktionen spannt der Pianist auf, erinnert an die Initiatoren, den Beginn und die Zweige der Bewegung, die ihn nach wie vor zu bewegen scheint und auch heute noch in seinen Bann zieht (somit ist der Bezug zum Dada-Jahr 2016 ein naheliegender »Aufhänger«).
Über Humor, Sinn und Unsinn referiert Brendel nicht nur in der den Band beschließenden Rede, sondern schon in der Einleitung »Ein Mund und zwei Ohren«. Die Gegensätze bedingen einander, oder, wie er es in Weimar einst formulierte: »Es kommt nur darauf an, ob man tolerieren will, daß mit Ernst Scherz getrieben wird« (im Gespräch mit Péter Esterházy, 2015).
Erfrischend und erhellend sind aber nach wie vor jene Beiträge über die Musik, die er kundig und einfühlsam erläutert. Scharf geäußerte Kritik gibt es, aber selten:
»[…] Richard Taubers Aufnahmen von »Winterreise«-Liedern aus dem Jahr 1927 umfasst nur etwa die Hälfte [des gesamten Zyklus‘]. Man kann froh darüber sein, denn sie stellen einen Tiefpunkt der Schubert-Interpretation dar. Taubers Fähigkeit, Schubert in die trivialsten Gefühlsregionen zu versetzen, kann kaum überschätzt werden.«
Kritik setzt eine fundierte Auseinandersetzung voraus, einen akribischen Geist, der jedes Detail zu prüfen vermag. Und so verraten die Anmerkungen zu Ian Bostridges Buch »Schuberts Winterreise« vor allem die Freude, mit der der Pianist es gelesen hat, auch wenn er in wenigen Punkten von dessen Meinung abweicht:
Ian Bostridges schöne Besessenheit öffnet neue Türen im Umgang mit einem Werk, das die depressive Seite von Schuberts Musik unvergleichlich zusammenfasst. Bei aller Todesnähe rechtfertigt die Existenz dieser Lieder unser Leben.
Im übrigen ist kein Einwand, kein Kritikpunkt Brendels unbegründet. Er erläutert sie nicht nur im Text, gegebenenfalls mit Noten, sondern hat dem Buch auch eine CD mit Hörbeispielen beigefügt. Belehrend wird »Die Dame aus Arezzo« deshalb noch lange nicht!
Die eigenen Texte hat Alfred Brendel um zehn Abbildungen und zahlreiche Gedichte Daniil Charms, Welimir Chlebnikow, Kurt Schwitters und anderer Autoren ergänzt. Sie sind dadaistisch, humoristisch und unterhaltsam. Merke: »Hie und da lache ich noch – nicht mehr so viel wie früher, aber doch genug, um zu überleben.« Mögen dem Pianisten noch viele Gründe zum Lachen gegeben sein!
Alfred Brendel »Die Dame aus Arezzo. Sinn, Unsinn und Musik«, Carl Hanser Verlag, fester Einband, Schutzumschlag, incl. CD mit Hörbeispielen, 143 Seiten, 24,- €
Wolfram Quellmalz
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