Alexander Suckel »Lipatti«
Dinu Lipatti, ein rumänischer Pianist, war eine Legende, einer der bedeutendsten Interpreten und Tastenkünstler des Zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Roman, der den Titel »Lipatti« trägt, zieht Musikfreunde natürlich an, auch die Literaturseiten der Neuen (musikalischen) Blätter.
Der legendäre Pianist taucht in Alexander Suckels Buch allerdings nur »am Rande« auf. Kruse, der schon der Held in Suckels vorherigem Roman »Inquietudo« gewesen war, wird in einem Brief vom Tod des Onkels und dessen Nachlaß informiert. Nur: der verstarb bereits vor zehn Jahren, der Nachlaß war längst geregelt. Wenig später erhält Kruse weitere Post – jemand versucht, ihn unter Druck zu setzen, möchte nicht, daß Kruse Nachforschungen anstellt. Oder soll er gerade das? Wer ist derjenige, der ihn bedroht und was will er? Versucht er, an »Material«, Aufzeichnungen, heranzukommen, an Informationen?
Kruse beginnt Fragen zu stellen, sich selbst und anderen. Zunächst führt sein Weg nur von Wittenberg nach Halle, kreist um die ehemalige Künstleragentur Bebel (die Besitzerin ist ebenfalls vor einigen Jahren verstorben). Aber bald schon macht sich Kruse auf nach Zürich, trifft einen ehemaligen Wittenberger, und unversehens landet er nicht nur in Neapel, sondern in einer ganz anderen Zeit.
Alexander Suckels Roman beginnt provinziell, beschaulich. Alles scheint ein wenig verschlafen, als seien die »großen Geschichten« eben früher passiert und könnten nur noch erzählt werden, weil es heute so etwas nicht mehr gibt. Erst recht nicht hier, in der »Provinz«. Auch Suckels Sprache scheint bei Sätzen wie »Kruse verleierte die Augen« zuweilen ein wenig eingestaubt. Doch dem unwillig aus seinem Festhängen auf einer Zwischenstation gerissenen Helden steht einiges bevor: eine turbulente Zeitreise, ein Vulkanausbruch und Krieg, und man staunt, wie gleichmütig Kruse dies hinnimmt.
Am Ende muß er sich nicht nur einer Bedrohung erwehren, er muß »richtig«, also detektivisch, ermitteln, intuitiv agieren, und steht schließlich vor dem Problem eines Paradoxons: als er seinem Onkel begegnet, wird ihm bewußt, daß er in den Zeitenlauf eingreifen könnte – mit unabsehbaren Folgen. Oder?
Strenggenommen begann der Ärger mit einem zweiten Schreiben, das fast gleichzeitig mit der leicht vergilbten Amtspost aus Wittenberg eintraf. Keine Unterschrift, kein Datum, kein Poststempel. Er nahm sich zum wiederholten Male den Brief vor, um ihn zu überfliegen: In Ihrem Besitz befinden sich Dinge, über die Sie aus Gründen, die hier nicht weiter erörtert werden sollen, besser nicht verfügen sollten. Auch wenn Sie glauben, dass Ihnen erbrechtlich diese Dinge zustehen, bitten wir Sie, davon keinerlei Gebrauch zu machen; mehr noch: Wir fordern Sie auf, den Inhalt als nichtexistent zu betrachten.
Kruse hatte etliche Stunden Zeit zu überbrücken und verbrachte diese auf recht fantasielose Weise in einer Cafeteria des Leipziger Hauptbahnhofs. Er trank einige Gläser Wein gegen die Angst, die Müdigkeit und den Durst; im Übrigen rauchte er, draußen vor der Tür, stoisch und verbissen seinen vortags erworbenen Zigarettenvorrat nieder. Er erreichte den City Night Liner nach Zürich zur angegebenen Zeit, legte sich sofort in das ihm zugewiesene Abteil und schlief abermals auf der Stelle ein, nicht ohne jedoch noch einige Takte seines musikalischen Begleitmaterials, jener Bach’schen Partita zu hören. Sehr früh am Morgen weckte ihn der Schaffner mit schlechtem Kaffee, und gegen sieben Uhr verließ Kruse, endlich in Zürich angekommen, den Bahnhof.
Kruse hatte sein Hotel verlassen, es war zeitiger Abend, er war auf dem Weg zu einer der Bars an der Piazza Bellini. Dort wollte er etwas trinken, ehe es Zeit schien, in einem Restaurant in der Nähe zu Abend zu essen. Schon auf dem kurzen Weg zur Piazza bemerkte Kruse die schleichende Veränderung. Die Farben wichen langsam aus dem Stadtbild. Wie bei einem Kleidungsstück, das zu oft gewaschen wurde über die Jahre, verloren sie an Strahlkraft und Helligkeit, wichen stattdessen einer Vielzahl zunächst pastellartiger Töne, um dann im Verlauf der nächsten Minuten in ein einheitliches ›Grau in Grau‹ hinabzusinken.
Wolfram Quellmalz
Alexander Suckel »Lipatti«, Roman, mitteldeutscher verlag, Broschur, 192 Seiten, 12,- €