Hochschule für Kirchenmusik führte Carl Loewes »Sühnopfer« auf
Natürlich ist auch Carl Loewe nicht »bei Bach« (oder anderen) stehengeblieben, sondern hat seine Kompositionen im Verständnis seiner Zeit romantisch verfaßt. Selbst wenn er nicht als »Neuerer« gilt, finden sich in seinen Werken weit mehr als Rückbezüge – Loewe über seine Balladen hinaus zu entdecken, lohnt allemal. Am Sonntag lud die Hochschule für Kirchenmusik Dresden dazu ein, »Das Sühnopfer des neuen Bundes«, ein Passionsoratorium, in der Annenkirche zu entdecken. (Am Sonnabend war das Konzert, das zur Spielzeit der Elbland Philharmonie Sachsen zählt, bereits in St. Marien Pirna erklungen.)
Die Geschichte vom Verrat bis zur Kreuzlegung Jesus erzählt Carl Loewe nicht nur in der Klangsprache neu, es finden sich darin auch andere Textpassagen oder -betonungen (Libretto: Wilhelm Telschow), die teilweise erstaunen und deutlich von den Lesarten nach den vier Evangelisten abweichen. Eine solche Rolle gibt es zum Beispiel gar nicht, statt dessen erzählen die Solisten das Geschehen und übernehmen darin eingeschlossene Zitate, etwa von Petrus oder Pilatus. Überraschen kann, daß Loewe und Telschow auch Personen zu Wort kommen lassen, die sonst nur erwähnt und in ihrer Rolle nicht hinterfragt werden. So wird Judas nicht als Verräter, sondern als Mensch dargestellt und darf seine Verzweiflung in Worte fassen, ebenso wie Simon von Kyrene Mitleid formuliert – ein Mitleid mit Jesus, für welches er sogleich bestraft wird und das Kreuz tragen muß. Darüber hinaus gibt es im dritten Teil einen Chor der klagenden Zionstöchter.
Am verblüffendsten ist Loewes ungemein schöne Klangsprache – sinnlich, einfühlsam und romantisch. Schon zu Beginn umschlossen die Streicher der Elbland Philharmonie den Chor förmlich, später tauchen mehrfach Wellenmotive auf, welche das Fließen der Tränen stilisieren – da konnte man sich verwundert die Ohren reiben, ob so viel Schönheit denn zu einem Oratorium paßt. (Ja, natürlich, wir sind es nur nicht gewohnt und haben einen anderen Blick auf Loewes Verständnis und seine Zeit.) Der Komponist hat ganz offensichtlich die (sinnliche) Erfahrung und Vermittlung gegenüber einer affektbeladenen »Belehrung« vorgezogen.
Stephan Lenning, Rektor der Hochschule und Leiter der Konzerte, wollte den Anlaß und das Anliegen des Werkes wohl nicht einfach in Schönheit auflösen, und so betonte er besonders die kontemplativen Momente. Manche Choräle, gerade im ersten Teil, gerieten dabei sehr gemessen und bremsten, zumal es im dritten Teil (Kreuzigung und Tod Jesu) ohnehin zu einer Verlangsamung kommt.
Der Chor war vor allem in den Chorälen präsent, ließ es sonst aber, vor allem da, wo Zweichörigkeit vorgesehen oder denn doch Effekte versteckt waren, an Ausgewogenheit und Sicherheit missen und wirkte insgesamt etwas befangen.
Großartig waren die Solisten, allen voran Bassist Clemens Heidrich, dem auch die größten Anteile zufielen. Er wandelte nicht nur mühe-, sondern bruchlos zwischen den Passagen verschiedener Erzähler bzw. rezitativischen und ariosen Texten und konnte sich auf die Sicherheit seiner wahrlich ergreifenden Stimme verlassen. Christian Volkmann (Tenor) stand dem kaum nach, Altistin Cornelia Kieschnik (die eben noch in einem Homilius-Oratorium einer ganz anderen Tonsprache nachgekommen war) fügte sich mit ihrer geschmeidig timbrierten Stimme wunderbar in Loewes beinahe betörende Musik. Gertrud Günther (Sopran) wiederum fiel mit »Laß, o Pilatus …« eine ausgesprochene Effektarie zu – das konnte Loewe also doch.
Es zeigt sich: Ausflüge an den »Rand des Repertoires« sollte man unbedingt unternehmen.
17. April 2019, Wolfram Quellmalz