Große Oper im Konzert

Filarmonica della Scala, Riccardo Chailly und Ray Chen bei den Dresdner Musikfestspielen

Fast ist wieder alles normal – die Musikfestspiele beginnen, internationale Gäste und Orchester kommen nach Dresden. Am Sonntagabend wurden noch bis zur letzten Minuten Karten an der Kasse verkauft, als die Filarmonica della Scala mit ihrem Chefdirigenten Riccardo Chailly auftrat, am Ende blieb kaum ein Platz im Kulturpalast frei – Festspielstimmung!

Nur Programmhefte mit informativen Texten, von vielen nach dem Konzert als Erinnerung verwahrt, gibt es derzeit noch nicht bzw. nur digital zum Herunterladen. Auf den kostenlos verteilten Programmzetteln war über den Solisten des Abends zu lesen: »Ray Chen hat als Geiger das Bild des klassischen Musikers im 21. Jahrhundert neu definiert.« Der Satz ist nichts als eine Marketingworthülse, denn – YouTube hin Facebook her – ein Geiger, der den Concours Reine Elisabeth gewinnt, den muß man musikalisch ernstnehmen, das war im zwanzigsten Jahrhundert schon so. Nicht Follower, sondern ein begeistertes Publikum erlebte im Kulturpalast eine vorzügliche Aufführung des zweiten Violinkonzertes von Felix Mendelssohn. Chen lotete Grenzen durchaus virtuos aus, ging Risiken ein, dies aber im Sinne des Stücks, nicht der Show. Chailly, der ebenso opernerfahren ist (und damit flexibel auf einen Solisten eingehen kann) wie er nicht zuletzt Mendelssohn aus seinen Leipziger Jahren »aus dem Effeff« kennt, folgte ihm nicht nur bis in feinste Piani, er setzte zudem mit dem Orchester immer wieder markante Farbtupfer. An sich ist der Klang der Filarmonica zunächst ein eigener, hier und da zeigten sich kleine Unstimmigkeiten in der Intonation, die Homogenität der Bässe war nicht immer lupenrein. Dafür überzeugte das Orchester mit seiner Farbe, mit gesanglichen tiefen Streicherlagen und mit einer Holzbläsergruppe, die den Solisten nach der Kadenz des ersten Satzes sogleich warm umfing. Begeisternd waren die Schattierungen, die Chailly herausarbeitete – am Beginn des Schlußsatzes schimmerte es wie am Beginn einer Verdi-Arie.

Ray Chen meisterte seinen Part souverän. Mit Mühelosigkeit überwand er nicht nur technische Klippen, er band sie auch in einen Kontext ein. Der hüpfende Bogen verlor nicht den Kontakt zur Saite, womit Verve und Fluß des Stückes bewahrt blieben. Chen gestaltete sein Vibrato variabel – kräftig noch zu Beginn des Andante, wurde sein Ton nicht zu süß, fand eine elegant-lyrische Ausdruckskraft. Die geweckte Begeisterung belohnte Ray Chen mit der Caprice Nr. 21 von Niccolò Paganini – der fast wienerisch-schmeichelnde Ton des Anfangs ging in einen italienischen Wirbel auf der Stradivari über.

Das »große Kino« fand nach der Pause statt. Gustav Mahlers erste Sinfonie, der »Titan«, hatte in seiner bildhaften Ausdruckskraft zuweilen etwas von der »Alpensinfonie«. Riccardo Chailly ließ Berge und Klüfte des wuchtigen Gebirges sanguinisch erstehen. In dieser üppigen Gestaltungswelt blieb Platz für Subtiles, dunkel-unterschwellige Töne und Ambivalenzen (wie sie dem vermeintlich heiteren Kuckucksruf gegenüberstehen). Die vielen eigenen Liedzitate Mahlers lösten Erinnerungen aus, nicht nur an die Werke, sondern auch an Aufführungen des »Titanen« bei den Musikfestspielen oder im (alten) Kulturpalast. Fast alles wie früher? Manches ist wieder da, aber schön und lebendig als Heute, nicht als nostalgische Erinnerung. Dafür gab es stehenden Applaus – eine Orchesterzugabe wäre noch schöner gewesen.

16. Mai 2022, Wolfram Quellmalz

Die Dresdner Musikfestspiele bieten bis zum 10. Juni noch viele Höhepunkte, unter anderem den zweiten Teil der Cellomania, der in diesem Jahr stattfindet. Heute spielen die Preisträger des Tschaikowsky-Wettbewerbes 2019 im Palais im Großen Garten, morgen wird Daniel Müller-Schott in der Martin-Luther-Kirche von der Organistin Iveta Apkalna begleitet. Weitere Informationen und Termine unter: http://www.musikfestspiele.com

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