Zeitreisen – Zeitsprünge

Maximilian Schnaus zu Gast im Dresdner Orgelzyklus

Die Frage, ob man auf einem Instrument nur Musik der Zeit, bis dieses gebaut wurde, spielen kann oder sollte, ist durchaus beachtenswert. Leichthin übergehen darf man sie keineswegs. Der Pianist Alexander Melnikov sah sich einst im Lindensaal Markkleeberg unversehens vor die Tatsache eines alten Blüthnerflügel gestellt (oder gesetzt), der kurz nach 1900, also lange bevor Dmitri Schostakowitsch seine Präludien und Fugen geschrieben hatte, gebaut worden war. Schostakowitsch stand aber auf dem Programm – ihn auf dem Blüthner zu spielen, sei durchaus ein Problem gewesen, meinte Melnikov damals.

Und wie ist es mit einer Orgel? Immerhin bietet sie mehr Möglichkeiten, einen Klang zu beeinflussen. Sebastian Freitag, Domorganist an der Katholischen Hofkirche Dresden, möchte ohnehin die Literatur nach 1755 (dem Jahr der Fertigstellung der Orgel in der Hofkirche) nicht ausschließen. Im gestrigen Konzert des Dresdner Orgelzyklus‘ in der Hofkirche (Kathedrale) von Maximilian Schnaus (Berlin) gab es nicht nur gleichviel zeitgenössische Werke wie solche aus der Feder Johann Sebastian Bachs, es war sogar eine Uraufführung darunter, die speziell für das berühmte Instrument geschrieben worden war.

Das Programm des frühsommerlichen Abends begann mit einem frohen Concerto Antonio Vivaldis. Das a-Moll-Werk, im Original für zwei Violinen, Streicher und Basso continuo (RV 522) hat seinen frohen Charakter auch in der Orgelfassung Johann Sebastian Bachs (BWV 593) nicht verloren. Maximilian Schnaus fand dafür eine lichtvolle Registrierung, welche die instrumentale Ornamentik herausstrich.

Gleich mehrfach folgten an diesem Abend aus der kontrastierenden Abfolge überraschende Wechsel in den Empfindungen. Zwischen vier Werke Johann Sebastian Bachs hatte Maximilian Schnaus die modernen Stücke eingefügt, und die waren teilweise so eindrücklich, daß man selbst in so meisterliche Kompositionen wie die Choralbearbeitung »Allein Gott in der Höh sei Ehr« (BWV 662) erst einmal wieder zurückfinden mußte.

In der Tat waren gerade György Ligetis Zwei Etüden für Orgel ungeheuer eindrucksvoll. Beide spielen weniger mit Stimmungen oder gar Melodien als mit Strukturen. In der ersten (Harmonies) erklang die Silbermannorgel in vielen Facetten. Im Englischen gibt es für Bläser den Begriff »winds« – daran war man hier erinnert. Aus Pfeifen, vibrierendem Summen, Geräuschen, die manchmal an die Hörner der Schaufelraddampfer draußen auf der Elbe erinnerten, fügte sich nach und nach ein harmonisches Band – fast schon bildhaft oder skulptural konnte man diesen Klang nennen. Nicht anders die zweite Etüde (»Coulée« = versunken), die aus schnellen, fast hektischen Vibrationen von Trillerketten ein immer komplexeres Bild zu flechten schien, das im Baß den Widerhall eines Chorals hatte.

An zentraler Stelle in der Mitte des Programms hatte die Uraufführung des Abends ihren Platz, Philipp Maintz‘ Fassung von »Allein Gott in der Höh sei Ehr«. Anders als bei Bach, der im Vergleich regelmäßig und gesetzmäßig ist, geht der Komponist hier viel freier mit dem Material um. Der Choral taucht erst spät, in Bruchstücken zunächst, im Werk auf und gibt sich nicht leichthin zu erkennen. Eher einer improvisierten Phantasie als einer Choralbearbeitung gleich, enthält das Werk clusterähnliche Strukturen (Beginn), nach und nach jedoch gelangt der Choral an die Oberfläche. Dem Charakter nach scheint das Stück (Vortragsanweisung: lucides et argenti = Leuchten und Silber, für die Silbermannorgel) den Weg auf einen Gipfel zu durchschreiten. Wenn es (bzw. der Choral) dort angekommen ist, klingt er (einem Gebet ähnlich) ohne Baß nach.

Doch der zeitgenössischen Stücke war es damit noch nicht genug, denn vor dem Finale, Bachs Präludium und Fuge C-Dur (BWV 547), sozusagen als Schlußwort, hatte sich Dominik Sustecks »Der Rufer« (Nr. 2 aus »Orgellabyrinth«) aufs Notenpult gelegt. Auch hier gab es geräuschhafte Kaskaden, an Fauchen gemahnende, glissandierende Passagen sowie eine Entwicklung – der »Rufer« muß sein Rufen erst erheben, um über die Menge und Umgebung zu tönen.

19. Mai 2022, Wolfram Quellmalz

Die nächsten Konzerte des Dresdner Orgelzyklus‘ finden am 25. Mai (Martin Sander / Frauenkirche), 1. Juni (Kreuzorganist Holger Gehring / Kreuzkirche), 8. Juni (Frank Thomas / Hofkirche / Kathedrale) statt. Beginn ist jeweils 20:00 Uhr.

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