Kann man Minimal Music maximal dehnen?

Simeon ten Holts »Canto Ostinato« im Kammerabend der Sächsischen Staatskapelle

Die Diskussion um künftige Konzertformate treibt mitunter, bis hin zu Farblichtinszenierungen und überflüssigen Moderationen, nervige Stilblüten. Am gelungensten erweisen sich immer wieder jene Versuche, die nicht von außen angeregt oder von einem Management bestimmt, sondern von den Künstlern selbst initiiert werden. Solchen Wagnissen darf man grundsätzlich mit Neugier begegnen. Das Risiko eines Fehlversuchs gehört natürlich dazu – wie immer, wenn man aufbricht, etwas sucht.

Am Sonntagabend kamen erfreulich viele Besucher in den Kammerabend der Sächsischen Staatskapelle, Parkett und 1. Rang der Semperoper waren dichtbesetzt. Immerhin schien die Ankündigung doch recht vage – nur ein Werk sollte es geben, Simeon ten Holts »Canto Ostinato«, von fünf Schlagwerkern (Nils Kochskämper, Yuka Maruyama, Manuel Westermann, Simon Etzold und Christian Langer) vorgetragen, dazu »Live Painting« (Claudia Reh) – keineswegs Kernrepertoire der Staatskapelle. Erfreulich auch, daß das Publikum so gemischt war. Vor allem die jüngeren ahnten wohl – dank YouTube-Vorschau –, was sie erwartet.

Die anderen wurden überrascht, denn zu »Schlagwerken« gehören so klingende Instrumente wie Xylophon, Marimbaphon oder Glockenspiel, selbst beim Klavier (Simon Etzold) werden die Saiten schließlich angeschlagen.

»Canto Ostinato« (ostinater Gesang) setzt sich aus Sequenzen und Partikeln zusammen, die fließen, strömen, rhythmisch pulsen. Beeindruckend war, wie die Musiker, die mit einem »Vorspiel«, während das Publikum noch in den Saal kam, nach und nach begannen, zu einem organischen, exakten Klangkorpus wuchsen, dessen Sequenz wogte, sich räumlich zu verschieben schien, dynamisch oder in die (Ton)höhe wuchs, schrumpfte.

Einen großen Teil der Faszination steuerte Claudia Reh bei, die mit drei Projektoren den musikalischen Elementen optische hinzufügte – Strukturen, Sand, organische Blattäderchen. In Überschneidungen fand stetiger Wandel statt, zweimal durften Augen und Fische kreisen, während Simon Etzold zur Orgel wechselte. Die Projektionen ergänzten die Musik, fügten eine Ebene hinzu – etwas, was Minimal Music sonst nicht kann. Sieht man sich beispielsweise die Oper »Der Prozeß« von Philip Glass an, lassen sich dramaturgische Zusammenhänge von Handlung und Musik absolut nicht ausmachen. Hier aber gelangen zauberische Momente. Zumindest für eine begrenzte Dauer.

Nach etwa zwanzig Minuten fiel der Blick zum ersten Mal auf die Uhr, nach 45 Minuten (noch nicht einmal die Hälfte war geschafft) wuchs die bange Frage, was denn noch kommen möge. Zwar erwies sich die Kombinatorik der Elemente als quasi unerschöpflich, dennoch waren es – Schönheit eingeschlossen – immer nur Variationen und Wiederholungen minimaler Elemente. Letztlich kann man in Minimal Music Belanglosigkeit finden – zwei Stunden »Fahrstuhlmusik« im Konzert? Einige Besucher gingen deutlich früher. Auch wenn einzelne, die eine Pause brauchten, zurückkamen, waren die Reihen am Schluß nicht mehr so dicht besetzt.

Der Kammerabend endete, wie er begann – nach und nach verließen die Musiker die Bühne, erst brandete einzelner Applaus auf, dann im ganzen – die einen jubelten, während die anderen ermattet flüchteten.

Nicht auf der Flucht, aber doch mit Aufatmen machte sich der Rezensent auf den Heimweg – um in der Straßenbahn einem Betrunkenen lauschen zu dürfen, der allein mit seinem Handy Karaoke sang (Off »Electrica Salsa«). Erst zu Hause gab es Erlösung – Deutschlandfunk brachte Musik von Heinrich Schütz.

13. Februar 2023, Wolfram Quellmalz

Die Musik der ersten Oper Philip Glass‘, »Einstein on the Beach«, nutzt der Held in Lídia Jorges »Paradies ohne Grenzen«, um sich auf einen Rekordversuch im Stillstehen vorzubereiten. Am Ende des Buches, in dem auch Maria Callas auftaucht, nähert er sich den 24 Stunden …

Lídia Jorge »Paradies ohne Grenzen«, erschienen bei Suhrkamp

Internetpräsenz von Claudia Reh:

https://echtzeitlicht.org/

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