Gesang und Orgel in der Vorpassionszeit

Kreuzvesper vor Estomihi

Kurz vor dem Beginn der Passionszeit, vor dem Sonntag Estomihi, feierte die Kreuzkirche Dresden ihre Vesper auf eine besondere, konzentrierte Art, deren musikalische Gestaltung in den Händen von nur drei Mitwirkenden lag: Baßbariton Florian Hartfiel wurde von Jonathan Auerbach an der Orgel begleitet, an der großen Orgel trat einmal mehr Kruzianer Anton Matthes in Erscheinung.

Und das wieder auf verblüffende Weise, denn neben dem Gemeindegesang (EG. E 3 »Wir gehn hinauf nach Jerusalem«) hatte er zum Beispiel Felix Mendelssohns Ostinato in c-Moll dabei. Das allein schon lohnte der Entdeckung. Weit bekannt ist, daß Mendelssohn ein begabter Orgelspieler war, in Leipzig und Umgebung Kirchen als Organist besuchte (heute versucht man wieder zu rekonstruieren, wo er aufgetreten ist) und während seiner Englandbesuche an den Orgeln dort für sein Spiel und seine Improvisationen gefeiert wurde. Im Repertoire wirklich verankert sind aber lediglich seine sechs Orgelsonaten. Fast könnte man meinen, darin erschöpfe sich Mendelssohns Orgelœuvre. Doch im Werkverzeichnis des Komponisten, das mit für die Orgel geschriebenen Stücken beginnt, stehen die Sonaten als Nr. 65.1 bis 65.6 – alles, was davor eingetragen ist oder was ohne Eintrag im MWV existiert, darf also wiederentdeckt werden!

Ob das erfindungsreiche Ostinato für Anton Matthes eine geläufige Étude ist, bleibt dahingestellt, ebenso wie die Frage, ob er sich dereinst mehr der Orgel oder dem Chor zuwenden wird (oder beidem) – dafür ist noch viel Zeit, seine Beteiligung bisher war höchst erfreulich und entdeckungsreich!

Mit Johann Sebastian Bachs Praeludium et Fuga f-Moll (BWV 534) und Mendelssohns Präludium c-Moll Opus 37.1 hatte er zuvor bereits für einen Moment der Aufhellung gesorgt, denn Florian Hartfiel hatte für die Vesper Texte ausgewählt, die bereits auf die Passionszeit hinweisen. Johannes Brahms‘ »Vier ernste Gesänge« sind geradezu ein Paradebeispiel dafür, daß man zwischen Ernst oder Nachdenklichkeit und Stille, Düsternis, Melancholie [etc.] differenzieren sollte. Außer den Nr. 3 aus dem Zyklus (»O Tod, wie bitter bist du«) sowie Nr. 4 (»Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete«) am Ende der Vesper hatte er sich für den Sonntag Estomihi noch Stücke aus der Kantate »Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem« (BWV 159) sowie, bereits zur Passion gehörend, das Arioso »Betrachte, meine Seel« aus Bachs Johannespassion (BWV 245) ausgewählt und fügte ihnen außerdem drei der Biblischen Lieder Opus 99 Antonín Dvořáks hinzu (Nr. 2 »Du bist, o Herr, mein Schirm und Schild«, Nr.3 »Gott, erhöre mein Gebet« sowie Nr. 8 »Gott, erhöre mein Gebet«). Während die Werke aus dem BWV im Altarraum (mit Jonathan Auerbach an der Truhenorgel) eine direktere Wirkung entfalteten, betonten Brahms und Dvořák, auf der Orgelempore interpretiert, ganz besonders die Stimmung.

19. Februar 2023, Wolfram Quellmalz

Zur Kreuzvesper am kommenden Sonnabend wird Anton Matthes erneut zu erleben sein, dann als Leiter seines Vokalensembles Sonus aeternus, Orgel: Robin Gaede. Liturg: Superintendent Christian Behr

http://www.kreuzkirche-dresden.de

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