Philippe Herreweghe und die Sächsische Staatskapelle auf zu vielen Wegen
Natürlich gibt es nicht die eine Art, Bach zu musizieren, das vorab. Schon zu Lebzeiten – keiner von uns war dabei und hat es gehört – ist das so gewesen. Davon kann man zumindest ausgehen, wenn man sich die damaligen Verhältnisse und den unter Kirchenmusikern (bis heute) üblichen Pragmatismus, Werke mit den zur Verfügung stehenden Mitteln aufzuführen, vor Augen führt. Hinzu kommt, daß jedes Werk mit seiner Rezeptionsgeschichte eine Erfahrung und Aufführungspraxis erfährt, die ihre eigene Berechtigung in sich trägt. Merke: einen »Zwang zum »Originalklang« gibt es nicht! Im Falle der h-Moll-Messe (BWV 232) ist die Rezeptionsgeschichte bald 300 Jahre alt und schließt sogar eine romantische (oder romantisierende) Phase mit ein. Gegenwärtig gibt es hier eine gewisse Renaissance, quasi einen »gemäßigt romantischen Bach auf Basis der Erkenntnis der historischen Aufführungspraxis«. Ob man es mag, ist letztlich eine andere Frage (und eine des Geschmacks).

Collegium Vocale Gent, Photo: CVG, © Michel Garnier
Gerade in der letzten Zeit konnten die NMB manchen recht romantischen Bach (Weihnachtsoratorium) erleben – mit großem Gewinn! Insofern waren wir auch gespannt auf die Lesart, die Philipp Herreweghe im Rahmen der Gedenkkonzerte (zum 13. Februar 1945), zu denen das 6. Sinfoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden zählte, präsentieren würde. Das Interesse steigerte sich noch, da der belgische (bzw. flämische) Dirigent seinen eigenen Chor, das Collegium Vocale Gent, mitbrachte. Doch zumindest am gestrigen Dienstag in der Semperoper wurde die Vorfreude enttäuscht.
Und das lag vor allem an einer mangelnden Balance sowie – ganz wesentlich – dem Fehlen einer Lesart. Vielmehr schienen die Musiker der Staatskapelle, wiewohl gerade solistisch hervorragend, wenn nicht exquisit (Horn: Robert Langbein), auf unterschiedlichen Pfaden unterwegs zu sein.
Einzeln betrachtet ohne Makel – die Oboengruppe (mit Wechsel zur Oboe d’amore) von Bernd Schober (Solo), Sebastian Römisch und Michael Goldammer war immer wieder solistisch oder als Arienpartner zu erleben – großartig! Auch die Trompeten (Helmut Fuchs, Volker Stegmann und Gerd Graner) wußten zu brillieren. Die Flöte von Sabine Kittel (Solo) fiel zunächst mit einer sehr weichen Geschmeidigkeit auf, die so nicht ganz zum Klang der Streicher paßte. Für sich genommen bleibt aber festzustellen, daß sie sich damit dem warmen Klang der Traversflöte (die originaler gewesen wäre) frappierend näherte. Am Klang lag es also keineswegs, sondern eher am Mangel an Kontur und der ungleichen Balance der einzelnen Instrumente (bzw. Gruppen) zwischen »Barock« (oder Bach) und Romantik (welche das Orchester geprägt hat).
Auch der Chor enttäuschte, wiewohl er gerade in leiseren Passagen genau das bot, was man sich von einem Vocalensemble verspricht. Forciert jedoch, was in der h-Moll-Messe immer wieder nötig ist (Kyrie, Credo) neigte er zu einem kehligen, inhomogenen Klang. Auch die Mehrchörigkeit war oft nicht überzeugend oder »aus einem Guß«. Teils läßt sich das vielleicht mit dem Raum erklären – das Collegium Vocale Gent singt typischerweise in Kirchen – doch die Frage, ob man beides, die Balancen von Chor und Orchester, in den Proben (mit Mehraufwand?) nicht hätte lösen können, ließ den Zuhörer unbefriedigt zurück.
Und doch hatte der Besuch gelohnt, denn »schmuck« klang es immer wieder. Das Solistenquintett war vielleicht etwas unterschiedlich (die Rollen allerdings auch). Sophie Harmsen, eigentlich ein Mezzosopran, blieb als Sopran 2 ein wenig harmlos, dafür überzeugten der souveräne Baß Krešimir Stražanac in gewohnter Weise, während Tenor Reinoud Van Mechelen, bisher von den NMB noch unerhört, eine angenehme und sicher Visitenkarte abgab.
Wirklich himmlisch, ja »zum Abheben« gefielen die Sopranistin Dorothee Mields und noch ein wenig mehr Altus Alex Potter. Während Mields mit beglückender Emphase Tonsprünge atemvoll ausmalte, brillierte Potter mit engelhafter Stimme – im Duett »Et in unum Dominum« (Und an den einen Herrn) fanden beide zu einem Höhepunkt zusammen.
15. Februar 2023, Wolfram Quellmalz