Sonnenaufgang im Orgelschein

Wenig beachteter Filmklassiker im Kulturpalast

Livemusik zu Stummfilmen gehört seit langem ins Jahresprogramm der Dresdner Philharmonie. Im neuen Konzertsaal des Kulturpalastes läßt sich dieses Format sogar noch ausbauen – am Sonntag gastierte auf Einladung des Orchesters der Composer in Residence und Palastorganist Thierry Escaich, der die Musik zu Friedrich Wilhelm Murnaus Film »Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen« an der Eule-Orgel spielte und improvisierte. Allerdings gab es leider – hier entsprach der Programmtitel »Sunrise« den Tatsachen – nur eine englischsprachige Kopie. Auch wenn die Texttafeln nicht zahlreich sind und man sie nicht zwingend braucht, um die grundsätzliche Handlung zu verstehen, wäre die Zugänglichkeit auf deutsch doch besser gewesen.

Murnaus Film, ein oskarprämierter Klassiker, war in seiner Entstehungszeit (1927) ein Flop, und obwohl er heute von Fachjurys immer wieder zu den besten Streifen der Geschichte gezählt wird, gar zu den besten vier … fünf Filmen überhaupt, ist er längst nicht so bekannt wie »Nosferatu«, »Casablanca« oder »Vom Winde verweht«. Es war Murnaus erster Film in Amerika, seine Handlung ist denkbar übersichtlich: ein junger Farmer, verheiratet und mit Kind, hat eine Affaire mit einer anderen Frau. Sie versucht, ihn zu überreden, mit ihr wegzugehen in die Stadt. Zwei Welten prallen aufeinander: das beschwerliche, einfache, mit Pflichten verbundene Leben, das er hat, und jenes glitzernde, turbulente, mit dem die Stadt lockt.

Friedrich Wilhelm Murnau, Bildquelle: Wikimedia commons

Die technischen Mittel sind so einfach wie teils spektakulär. Die Hauptpersonen haben nicht einmal Namen, heißen schlicht »der Mann« und »die Frau«. Gegensätze und Dramatik prägen den Streifen, keinen Kurzfilm wohlgemerkt, sondern abendfüllende eineinhalb Stunden lang. Legendär und prägend waren Murnaus Erzählstil und Techniken. Gleich zu Beginn wird die gemalte Lokomotive des Filmtitels unversehens zum Realbild eines abfahrenden Zuges in einem Bahnhof – bis heute ein Lehrbuchbeispiel. Mit Doppelbelichtungen und Überblendungen schuf Murnau eine raffinierte, subtile Atmosphäre – in vielem waren er und sein Team (Kamera: Charles Rosher und Karl Struss, Schnitt: Harold D. Schuster) Vorreiter und Modernisierer. Der Vergleich mit manchem am Smartphone zusammengewischten Spektakel wäre oft nicht würdig.

Thierry Escaich kennt den Film sicher auswendig, auch wenn er mit Blick auf die Leinwand spielte. Für die Besucher hatte das den Vorteil, ihn bei seiner Hand-, Arm- und Fußarbeit beobachten zu können. Und die nötigt Respekt ab sowie die Erkenntnis, daß Organisten fit und beweglich sein müssen. Und doch konnte man Thierry Escaich beinahe vergessen, sich ganz auf den Film konzentrieren. Escaich sorgte für Atmosphäre und Klangkulisse, formte Mondschein, den lockenden Pfiff der anderen Frau, gab ein ganzes Tanzorchester wieder, Gewitter, Dampflokomotive, Vergnügungslokal und schließlich den Sonnenaufgang – die Orgel ist ein Alleskönner, der Palastorganist beherrscht sie nicht nur »mit links«, sondern mit allen Händen und Füßen, mit Leichtigkeit. Nur etwas laut – immer wieder näherten sich gerade gleißende Dissonanzen der Schmerzgrenze.

Denn was der Film zeigt, ist dramatisch. Der junge Mann soll nicht einfach mit der Anderen weggehen, sie stiftet ihn an, seine Frau umzubringen! Das kann er nicht fertig, im Gegenteil – der mit ihr verbrachte Tag dreht die Situation vollkommen um. Das glückliche Ende wird zum Schluß allerdings von einem schrecklichen Unfall bedroht …

Wieviel Thierry Escaich vorbereitet hat, wie groß der Anteil der Improvisation ist, läßt sich nur vermuten. Hier und da erkennt man eingewobene Choräle oder Tänze – fließende Übergänge, bruchlose Szenenwechsel, Stimmungen werden nachgeahmt. In der Musik hat sich der Organist dem Film angepaßt, verzichtet auf Überhöhungen, suchte Authentizität – und fand sie.

20. Februar 2023, Wolfram Quellmalz

Schon in drei Wochen gibt es im Kulturpalast wieder einen Stummfilmklassiker zu erleben. Am 11. März spielt die Dresdner Philharmonie zu Fritz Langs »Siegfried« (1924). Musik: Gottfried Huppertz, Leitung: Christian Schumann.

http://www.dresdnerphilharmonie.de

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