Auf manches Wiedersehen und -hören freut sich das Publikum besonders. Die Pianistin Ragna Schirmer zum Beispiel darf gleich mehrere virtuose Tugenden für sich beanspruchen, verfügt sie doch neben der reinen Fingerfertigkeit über exzellente Werkkenntnis, also inclusive der Entstehungsgeschichte und Lebensverhältnisse der komponierenden oder aufführenden Personen, die sie zusätzlich zu vermitteln weiß. Darüber hinaus beherrscht sie das Instrumentarium – nicht nur das heutige, sie hat sich zudem mit jenen Flügeln befaßt, die Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadé Mozart oder Clara Schumann gespielt haben. Das gestattet der Pianistin, wo andere allein zirzensisch brillieren, aber sterile Eintönigkeit auf dem immer gleichen Klaviermodell hervorbringen, auf nahezu jedem Flügel der verschiedenen Epochen die Register zu ziehen. Das ist im durchaus musikalisch-übertragenen Sinne gemeint, wie sich die Besucher der Villa Esche am Freitagabend überzeugen konnten: zu Zeiten Mozarts und Händels verfügten die großen Concertcembali nämlich über mehrere Manuale, die man registrieren konnte. Ragna Schirmer übertrug neben Registereffekten manche Verzierung auf den historischen Blüthner-Flügel von 1910.

Der erste Pianosalon dieses Jahres begann gleich mit einem »Schmeckerchen«: Normalerweise bekommt man solche Kleinode von Mozart höchst selten oder nur in Einzelstücken als Zugabe präsentiert. Ragna Schirmer rückte die Suite KV 399 an den Anfang und damit ins Zentrum, denn die »Suite« stand überhaupt Pate für jene Form, die den ganzen Abend ausmachen sollte. Wolfgang Amadé Mozart hat sich mehrfach mit den seinerzeit bereits klassischen Kompositionsstilen befaßt, Johann Sebastian Bachs Fugen und schon zuvor als Knabe bei Johann Christian Bach in London Sonaten und Concerti studiert. Einige Jahre später setzte er sich mit der Suitenform à la Georg Friedrich Händel auseinander. Daß KV 399 mit Ouvertüre, Allemande, Courante und einigen Takten der Sarabande ein Fragment blieb, ist bedauerlich, setzt den künstlerischen Wert nicht herab. Ragna Schirmer ließ das funkelnde Fragment mit Händels HWV 432 in g-Moll en suite verschmelzen. Das Stück blieb typisch Barock – auch ein Blüthner kann munter perlen wie ein Cembalo, und dynamische Effekte wie höfische Eleganz wußten beide Komponisten hervorragend auszudrücken.
Die Leichtigkeit, mit der die Pianistin ganz unterschiedliche Idiome ausdrückte, war verblüffend. So strich sie manche kompositorische Finesse noch heraus, wie in Claude Debussys Suite »Pour le piano«. Deren Prélude behielt seinen Charakter, wiewohl ihm ein impressionistischer Schimmer anhaftete. Manches erinnerte es an Ferruccio Busonis Bearbeitungen, der zum Beispiel Bachs Klavierwerke für den modernen Flügel neu eingerichtet hatte. Wirklich superb gelang die Toccata – solche Eleganz findet sich bei Schumann oder Rachmaninow nicht, mögen ihre Gattungsbeiträge auch noch so spektakulär sein.
Nach der Pause gewährte Ragna Schirmer einen romantischen Blick auf die Suite. Vor allem Antonín Dvořáks Opus 98 kennen viele – meist aber die später entstandene Orchesterfassung (vor allem Allegretto und Andante). Hier gab es einmal das Original zu hören, bevor Franz Liszts Reisebilder »Venezia e Napoli« aus den »Pilgerjahren« (»Années de Pèlerinage«) zunächst eine sanft schaukelnde Gondoliera zeichneten, um sich später zur wilden Tarantella zu steigern. Die Rasanz, ob nun von der Tarantel »gestochen« oder vom wilden Affen gebissen, sprach für Liszts erzählerische und theatrale Qualität ebenso wie für die Risikofreude der Pianistin – oder war es schlicht die Liebe zur Musik?
Dem südlichen Flair fügte Ragna Schirmer mit der Zugabe, »Asturias« (Asturien) aus Isaac Albéniz‘ Suite española, noch einen Farbtupfer höherer Temperatur hinzu.
10. Februar 2024, Wolfram Quellmalz