Olivier Latry und Emmanuel Pahud machen aus Flöte und Orgel ein Instrument
Im Grunde ist die Orgel ja eine Vielflöte – ursprünglich sind ihre Pfeifen dem Rohr der Flöte ähnlich, auch wenn dies die Dimension eines so großen und modernen Instruments wie der Eule-Orgel im Dresdner Kulturpalast mit seinen vielen, vielfarbigen und erstaunlich tönenden Registern vielleicht vergessen läßt. Wegen der Ähnlichkeit der Bestandteile sollte es also möglich sein, Flöte und Orgel zusammen klingen zu lassen, selbst wenn das Zahlenverhältnis von 4109 (Anzahl der Pfeifen in der Eule-Orgel) zu 1 zunächst arg ungewichtig scheint. Aber die Orgel muß ja nicht immer im Plein jeu (komplettes Spiel)tönen.
Solche Gedankenspiele waren gestern im Konzert bald vergessen, eigentlich sofort, selbst wann man am Anfang noch nicht ahnte, wie sehr aus den zwei Spielern scheinbar einer werden sollte. Manchmal schon, wenn der Dresdner Orgelzyklus in den Konzertsaal des Dresdner Kulturpalastes einkehrte, hat uns das Farblicht störend abgestoßen, diesmal blieb es aus. Und das wohl nicht nur aus (nachvollziehbarer) Ablehnung solcher Spielereien, sondern weil Olivier Latry und Emmanuel Pahud das Licht und die Dunkelheit als Erfahrungsdimension in ihren Auftritt eingebunden hatten, als Parameter, der dazugehört, wenn die Musik in einem Raum erkundet wird. Irgendwoher, aus dem Nichts, zunächst kaum zu orten, kam der Klang von Emmanuel Pahuds Flöte in Claude Debussys »Syrinx«, bis sich, zunächst hörend und dann im allmählich dämmrig werdenden Raum sehend, erkennen ließ, daß der Flötist spielend durchs Publikum im Parkett und von da auf die Bühne wanderte, auf der bzw. am dort stehenden Spieltisch mittlerweile Olivier Latry Platz genommen hatte. Nun mischte sich die Orgel improvisierend in das Stück, das an sich für Flöte solo geschrieben ist. Syrinx – ein Standardwerk für Flötisten, hundertmal gehört im Podium der Musikhochschule – ist bereits so schon zauberhaft, hier wurde es noch einmal um den feinen Ton des Flötisten bereichert; ein Bezauberungsplus, das Pahud von seinen Kollegen noch einmal zu unterscheiden scheint. Und als wäre dies nicht genug, vermischten sich beide Instrumente, wofür Olivier Latry aus den Flötenregistern (oder waren es mehr?) einen Klang gewann, bei dem sich nicht unterscheiden ließ, wann Emmanuel Pahud aufhörte zu spielen und wann Olivier Latry führend übernommen hatte. Dieses Kunststück wiederholte sich noch mehrfach am Abend, ganz ohne den verblassenden Effekt der Beliebigkeit, der sonst in einer schnöden Wiederholung steckt.
Beiden hatten noch mehr mitgebracht. Zunächst Trois mouvements für Flöte und Orgel von Jehan Alain, worin sich schwebende Übereinstimmung (Andante) ebenso fand wie die modern geformten Gegensätze im Allegro con grazia – Gegensätze, die sich nicht ausschlossen, sondern ein gleichwertiges Gegenüber und Miteinander formulierten, Akzente wahrten. So viel in Sachen 4109 : 1. Latry und Pahud haben eben Geschmack, können Klang nobel ausführen und beschränken das Zusammenführen nicht auf Tonhöhe, Zeitmaß oder eine balancierte Dynamik. Hier war einfach mehr »dahinter«, und so durfte auch Alains Allegro vivace expressionistisch flirren.

Mit dem Abschluß der drei kleinen Sätze spannten die beiden Musiker sogleich einen neuen Raum auf, der mit Olivier Messiaens »Monodie« für Orgel begann, fließend in »Cinq incantations« für Flöte von André Jolivet überging und mit »Force et agilité des corps glorieux« für Orgel von Olivier Messiaen endete. Hier verbanden sich die verblüffende Licht- und Farbwelt, die Chromatik Messiaens mit den Läufen, Sprüngen und Linien bei Jolivet. Immer wieder wechselte das Soloinstrument, fand sich Emmanuel Pahud mal auf der Bühne, dann im rechten oder linken Seitenrang neben der Orgel wieder – es ging um einen Kosmos, um Raum und Klang, nicht um eindimensionale Musik oder das Abspielen einer linearen Melodie! Allein die Formgebung expressiver Stöße, von der Flöte wie von der Orgel, war nicht weniger als eine Horizonterweiterung. Was wohl Olivier Messiaen zu dieser Interpretation gesagt hätte? Seine Stücke waren nur jeweils etwa 3 Minuten lang, doch darin schloß sich ein Zauber, nicht weniger mächtig als in der Geschichte von Syrinx.
Liegende Schwebetöne, ein pulsierender Orgelbaß oder Messiaens unglaubliche Polyphonie und Harmonie – es ist keine Übertreibung, wenn dieses Programm eines der besten, vielleicht das bisher beste im Rahmen der Orgelkonzerte im Kulturpalast genannt wird.
Da schien Francis Poulencs Sonate für Flöte und Klavier, hier natürlich in einer Fassung für Flöte und Orgel, zwar nicht gewöhnlich, aber doch faßbarer. Und hatte gleichzeitig ein so überzeugendes Stimm-Plus, daß man sich künftig die Klavierfassung vielleicht gar nicht mehr anhören mag. Ganz ohne Fuoco oder Presto war dies ein Programm, das über die Begeisterung hinaus aufregte, anregte. Und was gaben Emmanuel Pahud und Olivier Latry schließlich zu? Ein Wiegenlied, das Siciliano aus Bachs Flötensonate Es-Dur (BWV 1031) – zauberhaft!
5. September 2024, Wolfram Quellmalz