Großes Concert am 22. Mai im Leipziger Gewandhaus
Mit einem Spaziergang durch einen deutschen romantischen Wald wurde Schumanns Klavierkonzert schon verglichen, ein Bild, welches sich leicht auf den ganzen Abend des Großen Concertes übertragen ließ. Schumanns schwärmerisches Werk ist eines der beliebtesten und meistgespielten Klavierkonzerte überhaupt. Interessant sind einige Parallelen zum Klavierkonzert seiner Frau Clara: beide haben ihren Ursprung zu Beginn der 1830er Jahre, stehen in a-Moll und waren zunächst als einsätziges Konzertstück, als »Phantasie« (Robert) bzw. »Finale« (Clara) vorhanden. Auch hatten sowohl Robert einen erheblichen Einfluß auf Clara und das entstehende Werk wie auch umgekehrt Clara ein Antrieb für Robert gewesen war, vor allem im Hinblick auf die Vervollständigung der Phantasie zum Konzert. (Im übrigen hatte sich Clara Schumann auch stets im Konzertbetrieb dafür eingesetzt, Werke ganz zuspielen. Zu damaligen Zeit war es durchaus üblich, nur einzelne Sätze auszuwählen und mit Sätzen anderen Werken aufs Programm setzen.) Als »Schwesterwerke« sollte man die beiden Klavierkonzerte allerdings nicht deuten, denn trotz gemeinsamer Impulse und Bezüge sind es eigenständige, solitäre Stücke.
Wie auch den anderen Werken des Abends könnte man Schumanns a-Moll-Konzert ein Ungleichmaß unterstellen. Immerhin nimmt der aus der »Phantasie« hervorgegangene erste Satz etwa die Hälfte des ganzen Stückes ein, während das an zweiter Stelle stehende Andante nur einem kurzen Verweilen vor dem lebhaften Finale entspricht – weshalb es entsprechend als »Intermezzo« bezeichnet ist. Oft aufgeführte oder aufgenommene Werke bieten eine Vielzahl von Vergleichsmöglichkeiten, Platz für romantische Deutungen unterbreitet dieses Konzert reichlich. Die meisten Pianisten betonen den lebhaften, jubelnden Charakter der beiden Ecksätze und tauchen im Intermezzo in eine Waldesruhe oder Liebesehnsucht ein. Maria João Pires stellte vor allem die Sanftheit und die zarten Töne heraus, was den suchenden Charakter des Werkes unterstrich und auch einige besondere dialogische Momente bescherte, denn neben der recht prominenten Klarinette rückten nun weitere Bläser und vor allem das Cello mit in den Mittelpunkt der Szene. Dabei blieb, ganz erstaunlich, der jugendliche und schwärmerische Charakter des Stückes erhalten, keine Spur von Abgeklärtheit, Belehrung oder überlegener Erfahrung. Pulsierend, lebhaft – es geht auch mit leisen Tönen. Oder – um das Eingangsbild wieder aufzugreifen – es braust ja nicht nur im Walde, nicht nur die lautesten Sänger werden wahrgenommen – durch die hingehauchten Tönen der Pianistin wurden viele sonst verborgene »Sänger« vernehmlich.
Zum engen Kreis um die Schumanns gehörten auch die Komponistenkollegen Mendelssohn und Brahms. Werke beider bildeten einen thematischen Rahmen des Gewandhauskonzertes. Zu Beginn war Felix Mendelssohns Sinfonia Nr. 10 zu hören, welche der zweiten Gruppe der Streichersinfonien, allesamt Jugendwerke, angehört. Mendelssohn, der sich intensiv mit Komponisten wie Bach, Haydn oder Mozart auseinandergesetzt hatte, greift hier Formen und Wendungen auf, die wir schon aus der Wiener Klassik kennen, findet aber auch einen romantischen Serenadenton. Zwar trifft es zu, daß das Werk schwer einer Zeit zuzuordnen wäre, wenn man denn raten sollte, jedoch stellt sich diese Situation für den informierten Konzertbesucher ja gar nicht dar. Er staunt einfach, welch kleine Kostbarkeiten schon diesem jungen Geist entsprungen sind und wie sie Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester vor ihm aufblättern. Auch Tschaikowskys berühmte Streicherserenade in C-Dur geht auf die Auseinandersetzung mit der musikalischen Vergangenheit zurück. An Mozarts Serenaden habe er sich orientiert, ist sich die Musikwissenschaft heute sicher, aber vielleicht spukte ihm auch ein wenig Mendelssohn durch den Kopf, als er seine Serenade niederschrieb?
Und dann schloß sich am Ende der Kreis mit einer weiteren Serenade oder besser Sinfonie-Serenade von Johannes Brahms. (Erhellend war übrigens die Konzerteinführung von Ann-Katrin Zimmermann, welche die vielen Bezüge Brahms-Beethoven-Schumann-Mendelssohn der am Abend aufgeführten Stücke aufzeigte.) Und wie zuvor wich auch dieses Werk in Form und Maß von dem ab, was sich in der Romantik schließlich durchgesetzt hatte oder noch durchsetzen sollte. Sechs Sätze, Intermezzi zum Teil auch hier, zeigen einen jungen Brahms (»Alterswerk« war keines der am Abend aufgeführten Stücke) auf der Suche nach der großen Form, nach Tonsprache und Musikdichtung. Da sind verwobene und versteckte Themen, Reminiszenzen, durchstrukturiert und miteinander versponnen, von Dirigent und Orchester fein ausgearbeitet und vorgeführt. Brahms wandert durch einen Musik(t)raum, einen lebendigen, kein Museum, verbeugt sich zu den großen Meistern hin, nimmt Themen von ihnen auf und spiegelt sie in neuem Lichte wider. Da war der nächste Schritt, zur ersten »richtigen« Sinfonie, doch zwangsläufig und folgerichtig. Ein gewichtiges, ungewichtetes Werk, das viel zu sagen hat und zu schade wäre, daß man nur einzelne Sätze daraus kennte. Die Aufführung im Großen Concert rückte es endlich wieder einmal in den Fokus und schloß damit nicht einfach den Kreis des Brahms‘-Zyklus in dieser Saison, sondern bereicherte ihn über eine Aufführung der vier Sinfonien und der großen Konzerte hinaus.
Wolfram Quellmalz