Till Engel beim Pianoforte-Fest Meißen
Das Œuvre Ludwig van Beethovens wird im allgemeinen in drei Schaffensphasen eingeteilt, die sich auch in bezug auf die Klaviersonaten darstellen lassen. Während Opus 2 bis 7 der Frühphase zugerechnet werden, gelten die Opus 10 bis etwa 27 als »mittlere«, danach folgen die »späten«. Gleichzeitig hat Beethoven keine andere Gattung so beständig und ohne Unterbrechung verfolgt, so daß sich seine Entwicklung an den Sonaten geradezu exemplarisch nachvollziehen läßt.
Der Pianist Till Engel war in den vergangenen Jahren schon mehrfach beim Pianoforte-Fest Meißen zu Gast. Diesmal lud er in den Salon des THÜRMER Pianoforte-Museums im ehemaligen Firmensitz der Manufaktur. In seinem »musikalischen Gepäck« fanden sich zwei Sonaten, die, 1795 und 1816 vollendet, zeigten, welch enormen Weg Ludwig van Beethoven beschritten hatte – kein Wunder, daß sein Wirken auch für uns noch so übermächtig scheint! Während seine erste Klaviersonate überhaupt noch aus der Zeit Mozarts und Haydns stammt und sich der 25jährige Komponist bereits auf deren Höhe zeigt, hat sich bis zum Opus 101 ein dramatischer Wandel vollzogen.
In der Sonate f-Moll ließ Till Engel die Unbeschwertheit, aber auch das Selbstbewußtsein des jungen Beethovens aufblitzen, schien im Adagio eine Innenschau des Komponisten zu offenbaren. Das Menuett, damals eigentlich bereits abgelegt, entsprach jedoch nicht einem atavistischen Widerhall – Beethoven kokettierte hier mit seiner Form im Allegretto. Das frohgemutes Ungestüm desjenigen, der aufbricht, eine (Musik-)Welt zu verändern, hob Till Engel sozusagen aus den Tasten, um gleich anschließend zu offenbaren, wie sich diese Welt geändert hatte: gleich mehrere [Welten] scheinen zwischen dieser Sonate und der gut zwanzig Jahre später entstandenen Nr. 28 A-Dur zu liegen. Und dennoch setzte das »größere« Werk das »kleinere« nicht herab.
Verträumt, dunkel, verhangen schimmerte Beethovens 101 aus dem weich klingenden THÜRMER-Flügel – spätestens jetzt hatte sich eine Salonatmosphäre eingestellt. Und wieder einmal zeigte sich, wie wenig technische Perfektion auszurichten vermag – die vielschichtigen, zuweilen ambivalenten Gefühlslagen der Sätze gilt es zu entdecken, kleine Motive darin zu erkennen und hervorzuheben. Till Engel gelang diese Ausdruckssuche meisterhaft. Auch das kennzeichnet die Entwicklung der Beethovensonaten: mit Nr. 26 hatte der Komponist begonnen, zunehmend deutsche Charakteranweisungen statt der damals gebräuchlichen italienischen zu verwenden. Wie auch Robert Schumann später ging es darum, nicht allein Tempo und Stimmung festzulegen, sondern einen »Geistesgehalt« hervorzuheben. So deutete Till Engel im lebhaften zweiten Satz einen Marsch an, ohne diesen als allein charakterisierendes Merkmal oder »Antrieb« zu betonen. Auch hier zählte der innere Gehalt, eine eruptive Spontanität. Noch einmal in dunkles Nachsinnen versunken, erwachte die Sonate schließlich erneut – entschlossen – mit Lebhaftigkeit.
Angemessen kraftvoll (für den Salon) war der Vortrag des Pianisten bisher schon gewesen, um nun mit drei Spätwerken Franz Liszts (»Nuages gris«, »La lugubre gondola« und »En rêve«) dessen schillernde Opulenz zu entfesseln. Traumverloren, so unfaßbar wie der eben untergehende Mond über den Dächern, hob das erste Stück an, glitt dahin. Gleiten und Flimmern, als wären es Wasserpartikel, lockerte die Stücke trotz aller enthaltener Düsternis (Trauergondeln) auf. Das abschließende, ein Nocturne, war gleichzeitig der Übergang für Maurice Ravels »Gaspard de la nuit«, der sich wie ein Nachtschatten mächtig aus den Klangkaskaden erhob.
Nach solch eindrucksvoller, aber eben auch oft düsterer Klangsinnlichkeit verabschiedete sich Till Engel beim Publikum mit einer »leichteren« Zugabe: einem Menuet Maurice Ravels.
26. August 2017, Wolfram Quellmalz