Katherine Mansfield »Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben«
Die neuseeländische Autorin Katherine Mansfield (1888 bis 1923) wird für ihr Werk verehrt, um ihr Leben rankt sich dabei manche Legende. Sie hatte es schon früh verstanden, ihre Texte veröffentlichen zu lassen, und bis heute gibt es zahlreiche Ausgaben.
Der Manesse-Verlag hat in den letzten Jahren nicht nur seine Manesse-Bibliothek der Weltliteratur äußerlich neu gestaltet, sondern poliert sie auch innerlich auf. Die Ausgabe »Katherine Mansfield – Erzählungen und Tagebücher« von 1974 wurde bereits 2008 (noch in der traditionellen Aufmachung), aber ohne die Tagebucheinträge und mit neu geordneten Erzählungen, unter dem Titel »Rosalbas Tagtraum« wiederveröffentlicht. Im vergangenen Winterhalbjahr folgten als Ergänzung die neu edierten Tagebuchnotizen. Viele davon wurden erstmalig, die anderen neu von Irma Wehrli übersetzt. Richtige »Tagebücher« sind es freilich nicht (nur), denn sie enthalten Skizzen und Notizen sowie Erzählfragmente, Kommentare und Notizen sind oft mit dem Wissen um einen (möglichen) Leser verfaßt. Mit »Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben« zitiert der Verlag nicht nur einen der letzten Tagebucheinträge, er fügt dem noch »Vignetten eines Frauenlebens« hinzu und enthebt die Texte der Last einer (wahrheitsgetreuen) Chronik.
Aus den Theatern strömt eine Menschenmenge auf die Straße. Das durchdringende Räderrollen der Droschken ertönt. Die Biederkeit ist längst schon zu Bett gegangen – bei heruntergelassenen Jalousien und zugezogenen Vorhängen schläft sie und träumt. Hörst du meinen schnellen Herzschlag nicht? Fühlst du nicht, wie mir das Blut heiß in den Adern pocht? Deine Hände können den dünnen Schleier lüften und deine Augen sich an meiner Schönheit weiden. In meinen Straßen liegt die Antwort auf all dein Suchen und Sehnen. Beweise dich. Besprühe deine Sinne mit dem berauschenden Duft der Nacht. Lass nichts im Verborgenen bleiben. Wer weiß, ob du nicht im Aufspüren meiner Geheimnisse die Antwort auf deine Fragen findest. (1905)
Katherine Mansfield pflegte nicht das regelmäßige Schreiben eines »richtigen« Tagebuches. Oft liegen zwischen den Einträgen, die einmal mit »Januar«, »März« oder »November« überschrieben sind, dann wieder mit »Freitag« oder »21. X. 07« Wochen, gar Monate (soweit sie nicht durch Selbstzensur entfernt wurden oder gar vernichtet worden sind). Eine Ortsangabe fehlt in vielen Fällen, so daß zunächst unklar ist, ob »November« nun Herbst (London / Europa) oder Frühjahr (Neuseeland) bedeutet. Regelmäßige Hinweise gibt es dagegen auf die Mondphase, und auch der Silvester- bzw. Neujahrstag ist immer festgehalten – bis diese Reihe zum Jahreswechsel 1920 / 21 allerdings reißt.
Ich springe aus dem Bett und eile ans Fenster hinüber. Es ist halbdunkel, weder schwarz noch blau. Der Küstenstreifen ist violett; am lila Himmel wehen dunkle Banner, und kleine schwarze Boote, bemannt mit schwarzen Schatten, stechen in die purpurne See. Oh, wie oft habe ich zu dieser Stunde gewacht, als ich ein Mädchen war! (aus »Erwachsensein«, 1918)
Der Band beginnt 1903 mit dem »Brief« an einen Lehrer, die letzte Eintragung stammt vom 14. Oktober 1922 – knapp ein Vierteljahr vor Katherine Mansfields Tod. In der Zeit wandeln sich die Texte von den schwärmerischen, poetischen Einträgen eines phantasiebegabten Mädchens, das die Bildkraft eines William Turner entwickelt, zu denen einer jungen Frau, deren Gedanken sich nicht nur um Verehrer, sondern auch um den Haushalt drehen. Der Leser erfährt, was Katherine Mansfield las – Tschechow, den sie verehrte, Dostojewski, den sie »ablegte«, Tolstoi und immer wieder Shakespeare.
Genau dann, wenn die Zeit gekommen schien, sich zu sammeln, seine ganze Kraft zu gebrauchen, um selbst zu bestimmen und erwachsen zu sein, schienen sie sich damit zufriedenzugeben, ihren größten Herzenswunsch gegen unzählige kleine Wünsche einzutauschen. Das rief bei mir das Bild eines Flusses hervor, der sich in unzähligen Rinnsalen über dunklem Sumpfland verlor. (1922)
Der Tod des geliebten Bruders muß sie schwer getroffen haben, immer wieder taucht er fortan in ihren Texten und Träumen auf. Mehr und mehr werden ab der zweiten Jahreshälfte 1919 Krankheit bzw. Gesundheit und Tod bestimmend sowie die Arbeit des Schreibens – Katherine Mansfield schilt sich selbst, wenn sie zu wenig schafft, doch bleibt sie optimistisch und voller Ziele. Klarsichtige, kritische und ironische Beobachterin – niemand ist sicher vor ihr, die (ehemalige) Schulfreundin Ida Baker (»L. M.«) ebensowenig wie Katherine Mansfield selbst.
Hast du bemerkt, wie selbstgefällig jene Berge wirken, die das ganze Jahr schneebedeckt sind? Sie scheinen von mir ehrfürchtiges Staunen zu erwarten. Es scheint ihnen nicht in ihre dummen Gipfelköpfe zu gehen, dass es vielleicht ziemlich langweilig ist, so für alle Zeit über jeden Verdacht erhaben zu sein. (»Schneeberge«, 1920)
Katherine Mansfield »Fliegen, Tanzen, Wirbeln, Beben. Vignetten eines Frauenlebens«, Tagebuchaufzeichnungen, aus dem Englischen von Irma Wehrli (Neuübersetzung), mit einem Essay von Virginia Woolf und Nachwort von Dörte Hansen, Manesse Verlag, fester Leineneinband, farbige Fadenheftung, farbig gestalteter Vorsatz, Schutzumschlag, Lesebändchen, 384 Seiten, 22,- €, Zusätze
12. Juni 2019, Wolfram Quellmalz
Eine Besprechung der Ausgabe von 1974 (Übersetzung von Ruth Schirmer) mit Kurzgeschichten folgt bei uns in Heft 33.