Jedem Hund sein Körbchen

MARIE-SABINE ROGER »WENN DAS SCHICKSAL ANKLOPFT, MACH AUF«

Es war alles so schön in Ordnung, bis diese junge Frau kam und alles durcheinanderbrachte. Wobei: ganz so »in Ordnung« war es nicht. Madame Fleur Suzain, Witwe, führt zwar ein geregeltes Leben mit ihrem Mops Mylord, aber eines voller Regeln, Ängste, Phobien, bei der kleinsten Aufregung greift sie zu Mitteln und Gegenmitteln, schluckt Zenocalm, Constipax, Placidon, Serenix und Tranquilvox – Medikamente, vielleicht auch ein paar Placebos. Die Terminologie der Ärzte kennt sie – aus Ratgebern und Dokumentarsendungen. Das Haus verläßt Madame Suzain kaum bzw. nur zu unvermeidlichen Terminen, wie dem Besuch bei ihrem Therapeuten Doktor Borodin.

Mylord ist ihr ein und alles, ihr » Baby«, »Fröschlein«, »kleines Walroß«, »armer kleiner Stöpsel« … Nur einmal, als er eine Gelegenheit nutzt, ins Treppenhaus auszubüxen, nennt sie ihn plötzlich »kleines Monster«. Weil sie den Hund während ihrer Besuche bei Doktor Borodin nicht allein zu Haus lassen will, sucht Madame Suzain jemanden, der in der Zeit auf den Hund aufpaßt. Allerdings fällt ihre Annonce sehr vage aus, indirekt und andeutend. Die junge Frau, die sich daraufhin meldet, hat jede Menge »Ticks«: sie zuckt und schlägt unwillkürlich, ruft und bellt. Sie heißt Harmonie.

Leseprobe:

Aber das ist das Übel des Jahrhunderts: Die Leute artikulieren nicht mehr. Sie artikulieren überhaupt nicht mehr. Selbst Schauspieler nuscheln heutzutage, es ist unglaublich.

Es entspinnen sich zwei heitere Tagebücher, die sich zu einem Roman fügen und zwei höchst unterschiedliche Personen widerspiegeln. Fleur Suzain ist über siebzig, übergewichtig und eine hypochondrische Meisterin des Abschweifens: Sie verkettet Anfügungen in Klammern, versieht sie mit Kommentaren und Nachsätzen und fügt oft noch eine kursive »Nachricht aus dem Unterbewußtsein« hinzu. Klammersetzungen oder Anfügungen sind für Harmonie nicht wichtig, dafür überschlagen sich – wu-ha! – ihre Sätze manches Mal.

Vom Lärm angezogen wie Kakerlaken vom Licht, kam Madame Piquet auf den Treppenabsatz heraus, um Harmonie mit offenkundigem Misstrauen zu mustern.

Harmonie grüßte sie sehr höflich, ehe sie sie aufforderte: »Geh Schwänze lutschen.« Ich biss mir auf die Zunge, um nicht hinzuzufügen »in der Hölle«. Ich bin mir sowieso sicher, dass Madame Piquet den Film Der Exorzist nie gesehen hat.

Wie dem auch sei, die olle Madame Piquet stieß einen markerschütternden Schrei aus und legte ihre Hand auf ihr Herz, ein sinnloses Unterfangen, da sie keins hat. Daraufhin nahm Harmonie zwischen zwei blumigen Beschimpfungen Abschied und verschwand im Treppenhaus.

In skurrilen Alltagsszenen, ihren Verkettungen und Verhedderungen, liegt viel humoristisches Potential. Da die Autorin den beiden Tagebuchschreiberinnen ihre »Pferdchen« bzw. ihr Unvermögen in geordnetem Erzählen gerne durchgehen läßt, wird es der Abschweifungen manchmal etwas viel. Leider häufen sich dabei Satzkonstruktionen mit Doppelungen von »hätte, hätte« oder »wäre, wäre«. Dafür erhält die Autorin ihren beiden Heldinnen aber stets die Liebenswürdigkeit.

Der Kreis von Fleur und Harmonie erweitert sich nach und nach. Madame Suzain scheint nach dem Vorfall der »Erstbegegnung« mit Harmonie, dem zahlreiche weitere Vorfälle mit einem zunehmend größeren Personenkreis folgen, immer befreiter. Als Harmonie den Photographen Monsieur Poussin kennenlernt, einen Greis von 103 Jahren, ergeben sich poetische Momente auch über dessen Bilder hinaus.

Sie sind ein Renoir der Analogfotografie, Ihre Frauen sind Liebende, Ihre Männer sind glücklich, und Ihre Fotos heilen, Sie haben diese Macht.« »Heilen?« Monsieur Poussin lacht, dass man sein Zahnfleisch sieht, aus dem noch ein paar Stummel ragen. »Ja«, antworte ich, »ja, ganz genau, sie heilen. Ich habe mich auf Fotos immer gehasst, aber auf dem Porträt, das Sie mir geschenkt haben, finde ich mich schön. Sie können sich nicht vorstellen«, sage ich, »Sie können sich nicht vorstellen, wie gut mir das tut.« »Ich glaube doch«, erwidert Monsieur Poussin. »Ich erinnere mich, wie im Juli 1946 eine Frau ›Ich liebe dich‹ zu mir gesagt hat.«

Eine zerbrochene Beziehung, ein Lebenswerk und jede Menge Ticks – alles kann sich ändern, wenn man die Tür aufmacht.

Wenn das Schicksal anklopft
Marie-Sabine Roger »Wenn das Schicksal anklopft, mach auf« (Originaltitel: »Les Bracassées«, 2018), Roman, aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer, Atlantik, fester Einband, Schutzumschlag, 304 Seiten, 22,- €, auch als e-Book (16,99 €)

 

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