ILONA HARTMANN »LAND IN SICHT«
Jana geht an Bord eines Flußschiffes. Anders als Marlow, der Held aus Joseph Conrads »Herz der Finsternis«, der mit einem Dampfschiff den Kongo hinauffährt, befindet sie sich an Bord der MS Mozart auf der Donau, fährt von Passau nach Wien und zurück. Im Gegensatz zu den meisten anderen Passagieren, die als Paar reisen, ist Jana allein. Und sie könnte die Enkelin der meisten anderen an Bord sein. Oder die Tochter.
Jana hat ihren Vater lange nicht erkannt. Die Mutter nahm die Rolle der Alleinerziehenden ganz und dominierend ein. Fragen nach der Herkunft waren nicht willkommen, praktisch verboten, und so mußte Jana mit fast kriminalistischem Instinkt ermitteln, wer ihr anderer Elternteil ist. Sie hat es herausgefunden und will ihn nun treffen, kennenlernen. Janas Vater ist hier auf dem Schiff, der MS Mozart.
Die MS Mozart ist ein schönes Schiff. Einigermaßen. Auf dem Wasser wird Schönheit in anderen Einheiten gemessen. Alles ist ein bisschen dunkler, enger und niedriger, als man sich das an Land gefallen lassen würde. Die Decken hängen tief, die Flure ziehen sich lang und düster, das Fensterglas ist trüb. Das Dekor der Tapeten zeigt exotische Pflanzen, die nur für einen kurzen Moment in der Geschichte der Menschheit wuchsen, nämlich 1994 im Kopf des Tapetendesigners.
Es dauert, nicht bis sie ihn trifft, sondern bis sie ihm gegenübertritt. Und natürlich ist es anders, als sie es sich gewünscht, als sie es sich ausgemalt hat. Wie könnte es auch nicht anders sein – das Leben ändert sich keineswegs von heute auf morgen, auch nicht bei plötzlichen Ereignissen. Jana und ihr Vater müssen erst zusammenfinden, keiner von beiden kann allein bestimmen (oder vorhersehen), wie das passiert.
Höflich verabschiede ich mich in meine Kabine. Luft hole ich erst wieder, als die Tür ins Schloss gefallen ist und ich mit der Stirn am Fenster lehne. Draußen trägt jemand mit zittrigen Händen den Fluss vorbei.
Ilona Hartmanns Buch, eigentlich eher Erzählung als Roman, reiht sich ein in jene Ausgaben, in denen Autorinnen und Autoren von sich erzählen oder davon, was sie erlebt haben. Auch wenn »Land in Sicht« keine Autobiographie ist, bleibt es doch vom eigenen Erleben geprägt. Darunter leidet ein wenig der Schwung: Während das Buch mit der Frische der ironischen Beschreibung beginnt, mit der Ilona Hartmann die Szenerie erfaßt, läßt die Kraft dieses Flusses allmählich nach, je unbestimmter die Richtung wird, in die Jana und ihr Vater treiben.
So einfach also. Auf einen Blick erkennbar verwandt. Das war neu. Ich weinte sofort und lange, die Stirn an den kalten Spiegel gelehnt. Ein Hinweis auf keine Geringere als mich selbst. Möglicherweise war ich also doch echt. Keinem mir bekannten Familienmitglied sah ich ähnlich. Nur meine Mutter und ich wurden einmal auf einem Weihnachtsmarkt von einem Glühweinverkäufer für Schwestern gehalten, als ich vierzehn war. Was blieb, war das Gefühl, von jemandem ausgedacht worden zu sein, der seine Erfindung gelangweilt zurückgelassen hatte.
Statt den Roman hier zu entwickeln und ein Ende zu bestimmen, läßt Ilona Hartmann dieses Ende offen (auch in bezug auf die abwesende Mutter), begrenzt aber den Erzählstrang auch auf das Ende der Flußfahrt – alles scheint möglich. Oder nicht?
Und doch hatte ich das Gefühl, dass das Vorhandensein eines Vaters in Familien irgendeinen Unterschied machte; dass diejenigen meiner Freundinnen, die mit einem Vater lebten, nicht dieses grundlegende Misstrauen gegen die Welt in sich trugen. Ein emotionales Privileg, auf das ich manchmal neidisch war. Meine Familie, also meine Mutter und ich, schien mir deshalb nicht zwangsläufig unvollständig, aber ich bemerkte an den Reaktionen der Umwelt, dass wir so wahrgenommen wurden. Etwas (jemand?) fehlte, und meine Mutter stellte sich mit aller Breitbeinigkeit in diese Lücke, so gut es ging.
