Klavierkonzert mit Denys Proshayev in der Dresdner Frauenkirche
Einen »roten Faden« zu spinnen ist manchmal schwer, scheint mitunter beliebig und nicht zwingend. Im Grunde könnte man jedem Komponisten der Romantik oder späterer Epochen nachsagen, er habe Bach und Mozart studiert und sich – direkt oder indirekt – auf sie bezogen. Und das wäre zwar richtig, für das Konzertprogramm muß es dennoch keine zwingende Annäherung bedeuten. So oder ähnlich könnte man auch über die Beziehung Bach – Chopin denken, doch Denys Proshayev bewies am Freitag in der Frauenkirche, daß er Werke fernab jeder Beliebigkeit zu interpretieren versteht.
Und er bewies, daß er sich des Ortes der Aufführung bewußt ist. Denn nachdem auch sein Konzert aus der klarsichtigen Unterkirche in den hallenden Hauptraum umziehen mußte, änderte er sein Programm kaum (und vermutlich nicht wegen des Umzuges), lotete aber die Akustik behutsam aus. Langsamer spielen sagt sich so einfach, läßt sich indes gar nicht so einfach realisieren. Denys Proshayev ließ sich jedoch Zeit, spielte Präludium und Fuge C-Dur (BWV 846) und h-Moll (BWV 869) aus dem »Wohltemperierten Klavier« (Anfang und Ende des ersten Buches) andachtsvoll – aber nicht überzeichnet –, formulierte jeden Takt gediegen, gab den beiden Teilen etwas sprechendes, eine tiefere Bedeutung – im Programmheft hatte der Pianist das Gesamtwerk als »musikalische Darlegung des Evangeliums« bezeichnet. Daß dies keine oberflächliche Etikettierung war, spürte gestern jeder Besucher. Da wünschte man sich einmal den Zyklus aller Präludien und Fugen mit Denys Proshayev, dann freilich aber doch in der Unterkirche, denn so spannend die ausgewählten Teile waren, könnte das ganze Werk mit angepaßtem Tempo am Ende zäh scheinen.
Natürlich hat Frédéric Chopin Johann Sebastian Bachs Werk gekannt und studiert. Mit dem Nocturne b-Moll (Opus 9 Nr. 1) behielt Denys Proshayev ein – wenn auch ganz anderes – sprechendes Spiel bei. Mit elegantem Parlando glitt das Nocturne durch das Kirchenschiff, wahrte der Pianist die Spannung, rutschte eben nicht in die Beiläufigkeit. Und es blieb spannend, denn vor dem nächsten Stück ging Proshayev nicht hinaus, sondern setzte sich sogleich wieder an den Flügel. Alexander Skrjabin ist in den letzten Jahren mehr und mehr in den Konzertraum zurückgekehrt. Vor allem Pianisten spielen ihn wieder öfter, allerdings oft als Zugabe. Im Gegensatz zu seinen späteren, ungeheuer modern wirkenden Werken, welche vom Aufbruch in eine neue Musikwelt künden, orientierte sich der Komponist in seiner Jugend noch stärker an Vorbildern – Chopin zum Beispiel. Das Prélude et Nocturne Opus 9 für die linke Hand war eine zauberhafte und verblüffende Entdeckung, und man mußte schon zweimal hinhören (oder hinsehen) um zu bemerken, daß da wirklich nur die linke Hand spielte. Der Komponist hatte – ähnlich, wenn auch nicht so nachhaltig wie Schumann – seine rechte Hand durch Üben und Spielen überstrapaziert und das Stück für eigene Zwecke verfaßt. Gleichwohl verzichtete er dabei auf nichts, blieben Melodie und Begleitung dicht verwoben, so daß weder Reduktion oder gar Mangel spürbar waren.
Denys Proshayev war ein hervorragender Entdecker, der auch gestalterisch überzeugte, zu forcieren, zu betonen, Akzente zu setzen wußte; wie in der Steigerung der zweiten von Bachs Fugen. Immer aber ließ er die Musik ausklingen – eine Wohltat!
Da hätte man sich mehr gewünscht, zum Beispiel alle drei Klavierstücke D 946 von Franz Schubert. Zumindest die Nummern zwei und drei schlossen aber das Programm ab. Mit Gelassenheit begannen sie, das sonatenhafte zweite Stück offenbarte erhebliche Umschwünge und einen dramaturgischen Verlauf. Proshayev wagte hier viel, der Mut zum Risiko ließ manchmal den einen oder anderen falschen oder unsauberen Ton dazwischenrutschen – was überhaupt nichts machte, denn die impulsive, direkte, emotionale Lesart überzeugte um so mehr! Der dramatische Mittelteil geriet zur mitreißenden Steigerung, von hier ging es entspannt zurück und fast direkt ins dritte der Stücke, wodurch dessen Scherzo-Charakter noch betont wurde. Laut und schnell ging es auch, ohne daß sich Töne überschlugen oder der Klang zu perkussiv geworden wäre.
In Auswahl und Vortrag überzeugte Denys Proshayev und bereicherte die momentan reduzierte Konzertlandschaft mit Klangreichtum und Gestaltungskraft. Nach Schuberts traumverlorenen Impromptu Ges-Dur (D 899 Nr. 3) mußte es noch ein Schlußwort geben: »Der Dichter spricht« aus Robert Schumanns »Kinderszenen«.
26. September 2020, Wolfram Quellmalz
Gleich am Montag gibt es das nächste Klavierkonzert in der Dresdner Frauenkirche. Cathy Krier spielt in einem Konzert der »Young-Artists«-Reihe Werke von Mozart, Rigaki und Debussy (20:00 Uhr, Hauptraum). Kommenden Freitag setzt Frauenkirchenorganist Samuel Kummer seinen Bachzyklus fort und präsentiert neben Johann Sebastian und Carl Philipp Emanuel Bach »Im Spiegel der Zeit« auch deren Zeitgenossen Gottfried August Homilius und Johann Christian Kittel (Horn: Stephan Katte).