Annette Unger »Contrasts«
Werke für Violine solo kennt man, klar: die Partiten und Sonaten von Johann Sebastian Bach, die Capricen von Niccolò Paganini, Eugène Ysaÿes legendäre Sonaten. Béla Bartók fällt einem noch ein, dann wird es schon weniger. Annette Unger, Violinprofessorin an der Dresdner Musikhochschule, hat nun eine ganze Reihe solcher noch recht unbekannter Stücke auf eine CD gebannt. »Contrasts« (Kontraste) steht für Unterschiede, für gegensätzliche Ausprägungen, differenzierte Stufungen, feine Differenzen. Kontraste können tonal verstanden werden, wie es in der Bildwelt hell / dunkel gibt oder die Empfindung warm und kalt unterscheidet. Solcher Gegensätze, die sich nicht selten bedingen, Vorgänger- und Nachfolgerwirkung haben, gibt es viele.
Die Stücke der Aufnahme stammen von Dresdner Komponisten. Zu ihnen gehört als historischer Ankerpunkt Johann Georg Pisendel. Der Konzertmeister der Sächsischen Hofkapelle war einer der größten Violinvirtuosen seiner Zeit, trug erheblich zur Orchesterkultur bei, schrieb selbst Stücke – Pisendel war ein Anreger und Multiplikator! Sein Name ist untrennbar mit anderen verbunden, wie von Antonio Vivaldi, Georg Philipp Telemann, Giuseppe Torelli, Johann Joachim Quantz … Das Largo seiner Sonate läßt entfernt Vivaldis Winter durchschimmern, erinnert an den Gesang einer Lerche. Annette Unger verleiht ihm die Flügel der Leichtigkeit, die strukturelle Schwierigkeiten mühelos zu überwinden scheinen. Kontrapunktik und Melodik, Rhythmik und Zeitmaß gehen mit pulsierender Frische Hand in Hand. Der Aufnahmeort, die Lukaskirche, verleiht der Aufnahme zudem einen weiten, luftigen Hall, ohne daß der Klang verschleppt würde oder die Artikulation an Präzision verlöre.
Pisendel ist der einzige Vertreter einer weiter zurückliegenden Vergangenheit unter den Komponisten auf der CD. Die übrigen sind – man staune – sämtlich im 20. Jahrhundert zu Hause, wie Hans Börner, mit dessen »Contrasts« aus den Aphoristischen Stücken Opus 34 die Aufnahme programmgemäß beginnt. Er setzt nach Pisendels Sonate auch gleich noch einmal mit weiteren vier Studien nach, stellt tänzerische und kontemplative Elemente gegenüber, bindet Tango und Foxtrott in einer Synthese.
Einer der interessantesten Persönlichkeiten des Dresdner Musiklebens vor einhundert Jahren war Stefan Frenkel. Mit Szymon Goldberg und Paul Aron bekannt, wenn nicht eng verbunden, steht sein Name für einen modernen, raffinierten, virtuosen Stil. Seite fünfsätzige Sonate Opus 1 spielt aber auch mit der Imitation und der Freiheit eines rhapsodischen Wandels. Den Gipfelpunkt erreicht sie – ganz klassisch – in einer Fuge. Hört man Rainer Lischkas Drei Stücke für Violine solo, die in der Folge schnell – langsam – schnell einer minimalistischen Sonate nahekommen, finden sich solch virtuose, moderne Elemente wieder. Gleichzeitig fällt auf, daß die Virtuosität auch bei ihm einen ephemeren Charakter behält. Annette Unger bleibt weit entfernt von rasanten Tempi und dem überzogenen Effekt einer sportiven Auslegung.
Am modernsten ist – mit einem Schuß Avantgarde – vielleicht Manfred Weiss‘ Phantasie für Violine solo, am frechsten Rainer Lischka »Frivolities« (Frivolitäten), bevor Annette Unger am Ende noch einmal aus dem Fundus von Hans Börners Aphoristischen Studien schöpft. Mit der Gypsy melody (Zigeunerweise) bereitet sie den wehmütigen Ausklang einer musikalischen Bespiegelung der Heimatstadt Dresden.

Annette Unger (Violine) »Contrasts«, Werke für Violine solo von Johann Georg Pisendel, Hans Börner, Rainer Lischka, Stefan Frenkel und Manfred Weiss, erschienen bei Genuin