Dima Slobodeniouk und Bertrand Chamayou durchstreifen mit der Dresdner Philharmonie europäische Weiten
Die Gäste der Konzerte am Wochenende kamen aus Rußland und Frankreich. Franz Liszt, einer der ersten Virtuosen der Musikgeschichte, hatte sie auf seinen Konzertreisen bereits besucht, seine Wege führten ihn aber auch nach Dresden und Prag, der Heimat Josef Suks. Im Dresdner Kulturpalast fanden sie wieder zusammen.
Während die Rolle des Pianisten Franz Liszt in den Geschichtsbüchern recht klar umrissen scheint, sind viele seiner Kompositionen, mit Ausnahme eines Kanons an Klavierliteratur, weit weniger im Repertoire verhaftet als jene eines Brahms, Mozart oder Beethoven. (Gleiches läßt sich allerdings auch von Carl Maria von Weber sagen.) Das eröffnet auf der anderen Seite allerdings auch Hörmöglichkeiten, denn die Anzahl der Referenzeinspielungen oder -aufführungen ist geringer. Insofern offenbarten Bertrand Chamayou und Dima Slobodeniouk in Franz Liszts erstem Klavierkonzert eine eigene Lesart, wohlgemerkt gemeinsam – daß sie sich einig waren, trug wesentlich zum gelungenen Auftritt bei. Denn sie begannen das Allegro maestoso keineswegs im klassischen Standard (etwa im Stile eines Alfred Brendel, wenn zumindest diese Referenz erlaubt sei), sondern belebten es in einem vitalen Marschgestus, der durchaus an Tschaikowsky erinnerte. Der Deutungshorizont von Pianist und Dirigent reichte jedoch weiter als nur bis zu »virtuos, kraftvoll und beeindruckend« – den kadenzartigen Mittelteil des ersten Satzes formte Bertrand Chamayou, von Fabian Dirrs Klarinette flankiert, romantisch aus, wozu sich bald Konzertmeisterin Heike Janicke gesellte.
Nicht nur im Übergang der Sätze (ohne Pause), auch in jenen zwischen unterschiedlich instrumentierten Passagen und bei der Einbindung von Soli bewies Dima Slobodeniouk Feingefühl und eine große Sichtweite – das sollte bei Josef Suk noch für Spannungsmomente sorgen. Zunächst aber bedankte sich Bertrand Chamayou für den Applaus und nahm das Publikum mit einem der Petrarca-Sonette Franz Liszts auf eine poetische Italienreise.
Hinsichtlich des Repertoires besteht bei Josef Suk wohl ein noch deutlich größerer Nachholbedarf als bei Franz Liszt oder Carl Maria von Weber. Dabei zeigt sich sein Œuvre auch über manche Kammermusikperle hinaus als Gourmetstück oder gar Ereignis. Die zweite Sinfonie, »Asrael« nach dem Engel des Todes benannt, da das Stück im Gedenken an Suks Schwiegervater Antonín Dvořák und dessen Tochter, Josef Suks Ehefrau Ottilie, entstand, gereicht nicht nur im Ausmaß an Gattungsriesen wie jene Gustav Mahlers. Auch in ihrer Schicksalsbeladenheit finden sich Bezüge, wie die unerbittlichen Schläge der großen Trommel (Mahlers sechste Sinfonie war etwa zur gleichen Zeit entstanden). Und doch enthalten die fünf Sätze, vier davon Andante oder Adagios, mehr als nur Klage und Trauer. Vielmehr scheinen sich Lebensbilder, Erinnerungen darin zu zeigen, die im Mittelsatz einem Vivace (also »lebhaft«) plötzlich glitzern.
Selbst in den langsamen Teilen ließ Dima Slobodeniouk keine alles erdrückende Tragik aufkommen. Vielmehr folgte er den feinen Linien, in denen Josef Suk ein Tongemälde geschaffen hat, das sich nicht wenig von der formalen Gattungsnorm entfernt (wie Liszt, der »Sinfonische Dichtungen« geschaffen hat). Dabei überraschte die Dresdner Philharmonie zuweilen mit einem Klang, als sei das ganze Orchester ein großes Klavier oder eine menschliche Singstimme, dann wieder ließ Dima Slobodeniouk die Lebenslinien bis weit in die Blechbläser fluten – eine Flut, die in der Prägnanz nicht nachließ und spannungsreiche Konturen behielt.
23. Januar 2022, Wolfram Quellmalz
Das Konzert am Sonnabend wurde auf Takt 1 übertragen und ist dort weiterhin in der Mediathek abrufbar. Darüber hinaus gibt es am 30. Januar 20:03 Uhr einen Mitschnitt auf Deutschlandfunk Kultur zu hören.