Grigory Sokolov kehrte ins Gewandhaus zu Leipzig zurück
Vor über drei Jahren war Grigory Sokolov zuletzt hier aufgetreten – sein letztes Konzert im Gewandhaus datiert vom November 2018. Nach etlichen Absagen bzw. Verschiebungen war es endlich wieder soweit – am Mittwoch gab es einen Großen Klavierabend mit dem in St. Petersburg geborenen Pianisten. Und der galt ganz der Musik – Sokolov, der keine Interview gibt, der sich auch bisher nicht bekannte und positionierte, bleibt auch in diesen Tagen glaubwürdig, seiner Sache, seinem Metier hingegeben, einer, der gibt. Und das lautete diesmal: Beethoven, Brahms, Schumann. Und sechs Zugaben selbstverständlich.
Mit den Prometheus-Variationen Opus 35 Ludwig van Beethovens nahm Grigory Sokolov zu Beginn den Faden eines Kernrepertoires auf, das er in den letzten Jahren verfestigt hat. Und drang sogleich vor in einen Kosmos, in eine Psyche (Beethoven-Prometheus), die ebenso abrupt brechen kann wie sie verbindlich zu verweben vermag. Wenn Sokolov schlagartig Kontraste blitzen läßt und sogleich eine sanft schimmernde Oberstimme perlen läßt, ist dies kein formaler Gegensatz, offenbart sich hier kein doppelter Boden – es ist (s)ein Spiel mit Ambivalenzen, Deutungshorizonten, klaren Konturlinien und wohlgeformten Übergängen, welche die Gleichmäßigkeit einer feinen Phrasierung noch um vieles übertreffen. Pianistisch singend und mit beherztem Baß trieb der einzigartige Künstler die Variationen voran, ließ sie gewähren und sich entfalten, und verblüffte wieder einmal damit, einerseits die (musikalische) Form zufassen und zu wahren, darin aber die Freiheit für capricieuse Verschlingungen zu finden. So kontrastierten Tonartwechsel nicht nur, sie changierten, wurden romantisch hingegeben und schienen auf Schumann, der später im Programm folgte, vorauszuweisen, auch darin, wenn er im (scheinbaren) Schlußwort der 15. Variation einen Dichter sprechen zu lassen schien. Zuvor bereits hatte Grigory Sokolov in der kleinen Form ein Scherzo-Menuett bloßgelegt, dem bald darauf frech neckende, dissonante Akkorde (13. Variation) folgten. Solcherlei weitgespannte panoptische Kaleidoskope sollten sich auch nach der Pause aufspannen, zuvor gab es aber noch Johannes Brahms‘ Drei Intermezzi Opus 117.
Gleichwohl zeigte sich hier, daß diese in den Mittelteil des Abends gefügten »Zwischenstücke« beileibe nicht nebenher zu spielen sind. Überschaubar in der Form, groß in der Wirkung könnte man sagen, entfalteten sich hier Welten – nein, »Miniaturen« sind es genausowenig. Hell, leuchtend wie ein Stern am Abendhimmel (ein repetierender Ton läutete die Turmuhr), einem Nocturne gleich entfaltete sich das erste der Intermezzi, einem Liebeslied glich das zweite, bevor das dritte in düstere Melancholie zu stürzen schien, die aber von einem erfrischenden Regenguß belebt wurde. Die Nachtstücke hätten auch in den Zugabenblock gepaßt, hier nun formte sie Sokolov zu einer dreiteiligen Andacht. Die konzentrierte Atmosphäre des Großen Saales löste sich erst nach und nach – mit jedem Mal, wenn der Pianist auf die Bühne zurückkehrte, nahm der Applaus zu.
Der zweite Teil des Abends gehörte allein Robert Schumann und seiner »Kreisleriana«. Grigory Sokolov hatte sich für die ursprüngliche Fassung dieses in Noten gefaßten Glasperlenspiels entschieden. So wie sich bei Beethoven die Variationen nicht schlicht aneinanderreihten, sind auch Schumanns Charakterstudien und Szenen eng verschlungen, durchdrungen, wurden nur zu Beginn (Nr. 2) von einem pochen des Pedals leicht gestört.
Mit seiner stupenden Fingerfertigkeit sorgte Grigory Sokolov immer wieder für überraschende Momente, folgte feinsten Äderungen, formte subtile Schattierungen aus, aus denen zuweilen ein Dräuen anschwoll. Auch hier war es nicht simple (effektvolle) Doppelbödigkeit – diffuse Schwebezustände gingen über in träumerische Weite, auf »mahnende Worte« folgten Spukgestalten. Schumanns Fallhöhe ist, wenn man sie derart bemißt, gewaltig! Und doch stürzt er weder ab noch steigert er sich ins opernhafte Drama – mit virtuoser Eleganz schaffte Grigory Sokolov Übergänge, formte einen (vorläufigen) Schlußpunkt.
Schlußpunkt? Wohl kaum. Ein paar Zugaben müssen es schon sein, weit verstreut – über die Jahrhunderte ebenso wie über die Landkarte – von Brahms und Chopin über Rachmaninow und (wohl) Medtner reichten die Encores. Das Publikum folgte nicht nur willig und andächtig, es kennt den Pianisten auch gut: sobald er wieder am Flügel sitzt, herrscht Ruhe! Das Schlußwort – vielleicht war dies eine Botschaft? – gehörte Johann Sebastian Bach: »Ich ruf‘ zu dir, Herr Jesu Christ« (BWV639, Bearbeitung Wilhelm Kempff).
3. März 2022, Wolfram Quellmalz
Im nächsten Großen Klavierabend wird Igor Levit erwartet. Er spielt am 26. März (Beginn: 19:00 Uhr, Großer Saal) Dmitri Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen Opus 87, am 28. März (Beginn: 20:00 Uhr) folgt Ronald Stevensons Passacaglia on DSCH im Mendelssohn-Saal. Mehr unter: http://www.gewandhausorchester.de