Kreuzvesper vor dem vorletzten Sonntag des Kirchenjahres
Der vorletzte Sonntag im Kirchenjahr, allgemein »Volkstrauertag«, ist noch nicht der Totensonntag, trotzdem gilt er – mitten im November – dem Gedenken an Verstorbene, in diesen Zeiten ganz besonders an die durch Kriege zu Tode gekommenen Menschen. Im Rahmen der Kreuzvesper gestern kamen verschiedene Musiken zur Aufführung, die der Trauer, dem Abschied, aber auch der Hinwendung zu Christus galten.

Photo: NMB
Johann Sebastian Bachs Phantasia g-Moll (BWV 542,1), von Kreuzorganist Holger Gehring an der großen Jehmlich-Orgel präsentiert, erklang zum Einzug, fand aber weder in der Fuge eine Fortsetzung, noch war sie besonders verbindlich. Ausnahmsweise wohlgemerkt, denn das an sich großartige Werk wurde von den nachfolgenden überstrahlt, deren Strahlkraft, was Helligkeit oder Stärke betraf, doch de facto viel geringer war.
Denn die Capella Sanctae Crucis Dresden hatte sich auf Meisterwerke des Barock konzentriert, welche Gedanken, und seien sie noch dem traurigsten zugewandt, in Schönheit zu kleiden wußten. Wie Johann Heinrich Schmelzers Lamento sopra la morte di Ferdinandi III a tre für Streicher und Basso Continuo. Das Klagen bzw. der Nachruf will schließlich, ob in Worte oder Noten gefaßt, etwas bedeuten, darf nichts Wesentliches vergessen, soll angemessen klingen. Gleiches läßt sich über Johann Pachelbels Partita »Christus, der ist mein Leben« für Orgel sagen, die Holger Gehring auf der Wegscheider-Orgel spielte. Die Choralmelodie klang zunächst gedämpft heraus, durfte sich dann virtuos hervortun, jedoch immer in angemessen zurückhaltenden Registern, Flöten etwa, die nicht lauthals »schreien«, sondern dem Ruf (oder Ton) etwas Süßes beigeben.
Wer Johann Sebastian Bach zu Beginn (Phantasie) beinahe noch überhört hatte, der bekam nun an zentraler Stelle eines seiner großartigsten und aufregendsten Werke zu Gehör: die Kantate »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« (»Actus tragicus«, BWV 106) für Soli und Orchester. Schon im Aufbau – ohne Rezitativ, dafür eine fließende Folge von Arioso, Aria und Duetto, den Choral in der Mitte statt am Schluß – weicht sie von der üblichen Form ab. Ihre Wirkung war ganz außerordentlich. Mit Dorothea Wagner (Sopran), Elisabeth Holmer (Altus), Sebastian Reim (Tenor) und Leon-Maurice Teichert (Baß) berührte sie ungemein, führte verblüffend vor Ohren, wie Bach zentrale Themen – Jesus, Leben und Tod – nicht nur aneinandergefügt, sondern sie zu einer Sinneinheit verbunden hat. Die Capella Sanctae Crucis Dresden verwöhnte hier mit einem schwebenden Klang, bei dem sich Violinen und vor allem Violen und Violoncelli mit Gamben verbanden. Gerade Sopran und Baß sorgten nicht nur für einen sinnigen Kontrast von hell und dunkel, sondern eine nahbare, zu Herzen gehende Interpretation. Die Anrufung von »Herr Jesu« (Dorothea Wagner) dürfte wohl jeden im Kirchenraum erreicht haben!
Superintendent Christian Behr griff in seinem Geistlichen Wort mit behender Leichtigkeit die Phrase auf, wann denn nun »die beste Zeit« sei – mit 70, in mittleren Jahren, in der Jungend oder gar schon mit zwölf? – um hernach, sich selbst einschließend, die verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen. Eine klare Antwort ist vermutlich schwer zu finden, um so dringlicher ist vielleicht die Frage bzw. der Hinweis, daß die Angst, die beste Zeit zu verpassen, gerade verhindern kann, diese Zeit zu erkennen.
Eine »beste Zeit« hat auch Georg Melchior Hoffmann verfaßt in der Aria »Schlage doch, gewünschte Stunde« für Alt und Orchester. Gemeint ist die gewünschte Todesstunde im Sinne einer Vollendung des Lebens. In diesem Fall wurden der Glockenschlag vom süßen Ton der Campanella (Daniela Vogel) dargestellt, der – immer höher / süßer lockend – das Besondere der an sich nicht strahlend-hellen Stunde unterstrich.
13. November 2022, Wolfram Quellmalz
Die nächste Vesper in der Dresdner Kreuzkirche gestalten die Dresdner Turmbläser, sowie Sebastian Schöne (Leitung) und Pascal Kaufmann (Orgel), Liturgie: Pfarrer Holger Milkau, http://www.kreuzkirche-dresden.de