»MEINE STILLE NACHT«
Es ist eines der berühmtesten Lieder überhaupt – »Stille Nacht«. Zwar ist der Text von Joseph Mohr im Buch abgedruckt – das ganze Gedicht im Klappentext, einzelne Passagen daraus tauchen zwischen den Erzählungen auf, dann ist es manchmal (»tönt es laut«) gar nicht mehr still – doch »Meine stille Nacht« ist kein übliches Weihnachtsbuch, auch keines, das sich dem Fest nähert und den Leser in die richtige Stimmung versetzen will.
Leseprobe:
Ich weiß noch, wie wichtig es für mich war, sobald ich lesen konnte, mit einem Buch im Bett zu liegen und mich auf Abenteuer zu begeben. Die Nächte ließen in meiner Fantasie alles lebendig werden.
(aus: Michael Stavarič »Nachtgedanken«)
Die Weihnacht spielt zwar bei den meisten der Geschichten eine Rolle, weil es in der Tat oft um das Fest geht, um Rückblicke erwachsen gewordener Kinder, um altgewordene Eltern und Geschwister. Doch nirgends rieselt der sprichwörtliche Schnee. Und manche Erzählung, wie Jens Wonnebergers »Laurentiustränen«, bezieht sich auf eine stille Nacht im Sommer.
Unter den Interpretationen von John Cages epochalem Musikstück sticht eine These heraus: Vier Minuten dreiunddreißig macht insgesamt zweihundertdreiundsiebzig Sekunden. Die Zahl 273 bezeichnet in der Physik, ein Minus vorangestellt, den absoluten Nullpunkt, an dem jede Bewegung aufhört, alles zum Stillstand kommt.
(aus Flora S. Mahler »Zweihundertdreiundsiebzig Sekunden«)
Ganz unterschiedliche »stille Nächte« sind die Bindung der Texte. Es geht nicht nur um das große Fest, das alle feiern, oft nicht einmal um ein kleines. da sind Menschen, die nachts allein im Bett liegen, deren Gedanken oder Sorgen schweifen, in die Ferne, in die Vergangenheit – eine Mutter, die, eben von ihrer Tochter entbunden, für einen kurzen, flüchtigen Moment der Erschöpfung und Verunsicherung spürt, daß die Geburt für sie mit einem Identitätsverlust verbunden ist, daß jenes, was eben noch Teil von ihr war, jetzt ein eigenes individuelles Wesen ist, dem sie zwar das Leben geschenkt hat, das nun aber eigenständig existieren, Forderungen stellen wird (Marlene Streeruwitz: »Stille. Der Anfang«). Oder Lasten trägt – die Last des Namens zum Beispiel, den die Eltern ihr für ein ganzes Leben geben werden. Auch Christina Maria Landerls Heldin (»Weiße Nächte«) verliert vorübergehend die Orientierung, die Sicherheit. In einer Silvesternach, die mit Party, Alkohol und Drogen beginnt, kommt ihr schließlich nicht nur das Handy abhanden – in beiden Fällen sind es wohl vorübergehende Zustände, solche, an die man sich später vielleicht gar nicht mehr erinnert. Im Gegensatz zu denen von Walter Kappachers Protagonisten, der in ein altes Haus einzieht und alte Erinnerungen wachruft.
Das war innig gewesen, Sie waren innig vereint gewesen. Eine volle Stille war das gewesen. Sie waren in einem summenden Wissen voneinander vereint gewesen. Sie war gern mit dem Kind im Bauch herumgegangen. Sie hatte nicht geredet mit dem Kind. Das war nicht gegangen. Irgendwie hatte sie sich nicht an das Kind in ihrem Bauch wenden können. Sie hatte mit dem Kind mitgedacht. Sie hatte stille Zwiesprache gehalten.
(aus: Marlene Streeruwitz »Stille. Der Anfang«)
Leben, sterben, Geburt und Tod ziehen sich durch die Geschichten. Friedrich Ani schreibt vom einschneidenden Erlebnis eines Knaben, dessen Großvaters kurz vor Weihnachten stirbt, bei Elke Laznia kümmert sich eine junge Frau um ihre alte Verwandte, die das Haus nicht mehr verlassen, nicht mehr allein den Haushalt und ihren Alltag bewältigen kann. Auch hier (»Woher ich komme«) geht es um eine Orientierung im Leben. Rafik Schami und Olga Grjasnowa lassen ihre Hauptpersonen (oder sich selbst) zwischen Religionen und Konfessionen wandeln.
In der Tiefe siehst du die schroffen, aus dem Schnee ragenden Felsen, dunkelgraue Gesellen voller Risse, die Grimassen schneiden und dir zurufen: »Komm nur! Fall herunter! Trau dich! komm!« Schwarzes Wasser tropft aus ihren Poren, schwarz wie Jesusblut an der Dornenkrone.
(aus: Franzobel »Die Reise in den Himmel«)
»Stille. Der Anfang« von Marlene Streeruwitz, mit dem das Buch beginnt, gehört zu den zauberhaftesten Erzählungen des Bandes, andere sind »lauter«, rustikaler. In der stillen Nacht von Jens Wonneberger warten zwei Menschen gemeinsam darauf, daß ihnen die Perseiden ein paar Sternschnuppen schicken. Mit einer apokalyptischen Heimatfilmepisode von Franzobel beschließt die zwölfte Nacht das Buch – wie gesagt, nicht immer bleibt es still.
Dezember 2022, Wolfram Quellmalz

»Meine stille Nacht. 12 Geschichten vom Werden«, Erzählungen von Friedrich Ani, Birgit Birnbacher, Franzobel, Olga Grjasnowa, Walter Kappacher, Christina Maria Landerl, Elke Laznia, Flora S. Mahler, Rafik Schami, Michael Stavarič, Marlene Streeruwitz und Jens Wonneberger, Müry Salzmann, fester Einband, Schutzumschlag, 136 Seiten, 24 €