Neapolitanische Andacht

Collegium 1704 mit einem Stabat mater und einem Requiem in der Dresdner Annenkirche

Kurzfristig war das Programm noch »neapolitanischer« geworden. Das Miserere des auf Sizilien geborenen Alessandro Scarlatti ersetzte Václav Luks durch Tommaso Traettas Stabat mater. Der Komponist, zwar kein gebürtiger Neapolitaner, aber Schüler Francesco Durantes, war später unter anderem Hofkapellmeister bei Katharina II. gewesen. Seine dort entstandene Oper »Antigone« kam vor einigen Jahren am Mittelsächsischen Theater auf die Bühne. Zu Lebzeiten einer der führenden Komponisten und Reformer, ist Traetta heute fast vergessen.

Die Programmhefte und Plakate des Collegium 1704 werden in dieser Spielzeit vom Künstler Matěj Forman gestaltet.

Dabei lohnt es, ihn wiederzuentdecken. Das führten das Collegium 1704 und vor allem der Chor des Collegium Vocale 1704 gestern in der Dresdner Annenkirche vor Ohren. Wie der Klagegesang zunächst in den Frauenstimmen anhob, später von den Männern verstärkt wurde, war symptomatisch für den Abend. Die Klage folgte einem andächtigen, einfühlsamen Erinnern, Besinnen, Momente des Aufschreis, zeigte sich im weiteren Verlaufe des Abends, gingen dramatisch daraus hervor. Wirkung wurde nicht mittels eines technisch hervorgebrachten Effektes erzielt, sondern entsprang der Individualität der Stimmen, die – als Solisten sowie im Chor – dem Text auf diese Weise eine besondere Authentizität verliehen. Beispielsweise Anna Zawiszas Sopran (»O quam tristis« / »Welch ein Schmerz der Auserkorenen«), der sehr schlank und fast leise, trotz dieses eher zurückgenommenen Charakters aber wunderbar verständlich war. Vor allem konnte Anna Zawisza großartig forcieren und nutzte den Nachhall der Kirche wirkkräftig.

Aneta Petrasovás Alt hat in den letzten Jahren stetig dazugewonnen, ist dabei aber angenehm geblieben und hat den Charakter behalten. Somit verfügt sie gar nicht vordergründig über mehr Volumen, ihr Vibrato verlieh dem »Vidit suum« (Sah ihn trostlos und verlassen) aber eine beeindruckende Körperlichkeit. Dem Schlußvers (»Fac, ut ardeat cor meum« / »daß mein Herz, im Leid entzündet«) verlieh Aneta Petrasová mit einem »doppelten Umschlag« Betonung: im Ton herber, wurde auch die Flamme des Entzündetseins spürbar. Später standen sich Sopran und Alt im Duett »Fac, ut portem« (Daß ich Christi Tod und Leiden) zunächst höchst individuell gegenüber, um im Schluß zu einer eindrucksvollen Einheit zu verschmelzen.

Wie entdeckenswert Traettas das Werk ist, machte gleich darauf der folgende Chor deutlich, der wieder auf den Stabat-mater-Text zurückkam und es ohne weiteres mit Bach’schen Passionschören aufnehmen konnte.

Für Francesco Durantes Requiem a due cori hatte Václav Luks (Leitung) die nun hinzugekommenen Naturhörner (Jiři Tarantík und Petr Šálek) auf der rechten Empore plaziert, wo sie – nach langer Wartezeit bei mäßiger Temperatur – mit exquisiter Intonation und präzisen Einsätzen auffielen. Weniger geglückt war die Aufteilung des Chores: due cori stand nicht für zwei gemäß venezianischer Mehrchörigkeit gleichwertige Chöre, sondern meinte einen Haupt- und einen Emporenchor, der kommentierende, verstärkende Funktion hatte. Dies gelang jedoch nur zum Teil, da im Schiff unten von den sechs Sängern (Besetzung: Sopran, Alt, zwei Tenöre, zwei Bässe) oft nur das Zischen der Konsonanten zu hören war. Allerdings unterstrichen sie in der Communio die Betonung von »in æternum« (in Ewigkeit) wirkungsvoll.

Das Requiem kommt fast ohne Soli aus bzw. sind diese meist eng mit dem Chor verbunden, weil einzelne Stimmen zum Beispiel einen Vers beginnen (wie im Kyrie eleison) und vom Chor schnell aufgenommen werden. Ab und zu sind ihre Rollen jedoch herausgehobener. Dora Pavlíková (Sopran) und Kamila Mazalová (Alt) gestalteten ihre Teile besonders schön, wobei gerade erstere die Suche nach dem Ausdruck über eine sichere, aber weniger ergreifende Textdeutung stellte. Im Tuba mirum gelang ihr mit den von oben tönenden Hörnern (»Laut wird die Posaune klingen«) eine der geglücktesten Darbietungen des ganzen Stückes! Die ganze Sequentia (Teil III des Requiems) gehörte mit der Steigerung des Chores im Dies irae und dem vom Orchester entfachten »Streichergewitter«, dem Klageschrei im Quid sum miser (»Weh! Was wird ich Armer sagen?«) und der darauffolgenden Milde im Quarens me (»Bist mich suchend müd gegangen«) sowieso zu den eindrucksvollsten Werkpassagen.

Solch affektiver Mittel wußte sich Francesco Durante durchaus zu bedienen, Václav Luks gelang eine zwar beinahe theatrale Ausleuchtung, jedoch ohne Übertreibung – die Aufführung hätte so auch Teil einer Andacht sein können. Schließlich wollen die im Text geschilderten Ereignisse oder Zustände (Domine Jesu: »Bewahre sie vor dem Rachen des Löwen«) mitunter geradezu plastisch ausgestaltet sein.

Beruhigen darf, muß es sich aber auch – über ein schwebendes Hosanna gelangte das Requiem in der Exsequiae mit einer Wiederholung des Kyrie eleison – Christe eleison schließlich zur Ruhe. Für Applaus fast zu schade.

9. März 2023, Wolfram Quellmalz

Das nächste Konzert des Collegium 1704 in der Annenkirche ist bereits das letzte der aktuellen Spielzeit der Musikbrücke Prag-Dresden. Am 3. April heißt es »Et resurrexit tertia die«. Dann (Beginn: 19:30 Uhr) stehen Jan Dismas Zelenkas Missa paschalis (ZWV 7) sowie Johann Sebastian Bachs Osteroratorium (BWV 249) auf dem Programm.

Im letzten Jahr bereits wurde der Film über den Böhmischen Komponisten Josef Mysliveček – heute vor 286 Jahren wurde er geboren – von Regisseur Petr Václav fertiggestellt. Am vergangenen Wochenende wurden ihm im Rudolfinum gleich sechs Böhmische Löwen verliehen. Nun hoffen wir, daß der Streifen, in dem das Collegium 1704 musikalisch und szenisch mitgewirkt hat, bald einen Verleih in Deutschland findet!

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