Film über die (fiktive) Dirigentin Lydia Tár zeigt ein Stück Dresden mitten in Berlin
Daß sich Drehbuchautor, Mitproduzent und Regisseur Todd Field nicht um Authentizität gekümmert hätte, kann man ihm nicht vorwerfen. Orte und Besetzung für seinen Film »Tár« wählte er gezielt aus – mit der Dresdner Philharmonie zum Beispiel ein professionelles Orchester, das nicht nur darstellte, sondern die Musik des Film auch wirklich spielen kann. Und das sogar im eigenen »Heim«, denn die Szenen wurden im Dresdner Kulturpalast gedreht. Allerdings ist der Ort im Film ein Zwitter: der Dresdner Konzertsaal wurde in die Berliner Philharmonie adaptiert.

Vor dem Orchester, die Partnerin im Hintergrund: Lydia Tár (Cate Blanchett), Photo: Focus Features, LLC Stars
Hautdarstellerin Cate Blanchett mußte nicht nur Deutsch lernen (weil das in der Klassikszene dazugehört, im Film braucht sie das daher auch für die englischsprachige Originalversion), sondern außerdem Klavier spielen. Nicht nur ein bißchen markieren oder »klimpern« wohlgemerkt, sondern immerhin ein paar Takte aus Bachs Wohltemperiertem Klavier interpretieren. Vom Handwerk des Dirigierens, das sie sich aneignen mußte, ganz zu schweigen.
Für eine andere Hauptrolle, die Cellistin Olga Metkina, wurde eine echte Cellistin ausgewählt – Sophie Knauer. Nina Hoss, die im Film die Konzertmeisterin Sharon Goodnow spielt, hat im Fach schon Erfahrung – 2019 hatte sie für »Das Vorspiel« (Regie: Ina Weisse) die Rolle der Violinprofessorin Anna Bronsky übernommen.
Die Neuen (musikalischen) Blätter sahen den Film gestern im Dresdner Programmkino Ost (Schandauer Straße 73).
DIE HANDLUNG
Die Dirigentin Lydia Tár (Cate Blanchett) ist einer der gefragtesten Pultstars überhaupt. Sie dirigiert die größten Orchester der Welt, erschließt Grenzbereiche der Musik, komponiert und hat ein Buch über ihr Arbeiten verfaßt. Nun leitet sie seit kurzem ein Orchester, das im Film nur »die Berliner« genannt wird. Ähnlich wie beim autofiktionalen Schreiben gibt es einen realen Ausgangspunkt: die Berliner Philharmoniker, deren Historie von Furtwängler über Karajan bis Abbado eingeflochten wird. Auch den Lehrmeister der fiktiven Dirigentin Lydia Tár hat es tatsächlich gegeben: Leonard Bernstein.

Doch so einfach – einen Musikfilm über eine Dirigentin und Komponistin – macht es Todd Field seinem Publikum nicht. Lydia Tár und die Konzertmeisterin ihres Orchesters sind ein Paar, haben ein gemeinsames Kind. Nicht nur in ihrer Beziehung folgt die dominierend auftretende Tár immer wieder männlichen Attributen (und läßt sich konsequent mit »Maestro« anreden) – selbst einer Schulkameradin ihrer Tochter stellt sie sich als »Vater« vor.
Erfolg in New York, Erfolg in Berlin – Lydia Tár schwimmt auf einer Welle, probt mit dem Orchester an einer großen Aufführung: Gustav Mahlers fünfte Sinfonie. Doch immer wieder und immer häufiger zeigen sich Brüche, gibt es Konflikte. Ihr Verhalten ist nicht nur unkonventionell, sondern rücksichtlos. Die durchsetzungsstarke Frau wird zugleich Täterin und Opfer, nutzt ihre Macht aus, wird aber selbst angegriffen. Nach und nach verliert sie die Kontrolle …
DER FILM
»Tár« verwirrt den Zuschauer schon zu Beginn, denn nach dem Titel laufen minutenlang Cast und Crew zu Musik vor einem schwarzen Hintergrund – kommt der Abspann hier zuerst? Es ist nicht die einzige Verwirrung, die Todd Field dem Publikum bereitet – er läßt kaum ein Klischee aus, beginnend beim lesbischen Elternpaar, streift die Gender-Sprache, diskutiert (Szene an der Juilliard-School), ob man Bach canceln soll. Field überreizt nahezu jede Situation, verliert sich in Andeutungen und Zeichen – nicht allen folgt er später noch oder löst sie auf. Ein Buch (»Challange«) von Vita Sackville-West, das Lydia Tár anonym geschenkt bekommt und in dem sich geheimnisvolle, scheinbar bedrohliche Zeichen finden (später findet sie die im Deckel eines in der Nacht mysteriös tickenden Metronoms), ein verschwundener Partiturband, ein Bruder, der unvorhergesehen auftaucht und Lydia als »Linda« anspricht – man muß natürlich nicht alles aufklären, doch die Versatzstücke fügen sich nicht zusammen, die Lücken lassen ratlos zurück. Dafür, sie wirklich geheimnisvoll wirken zu lassen, fehlt es »Tár« schlicht an Subtilität. Es gibt auch zu viele Nebenfiguren mit unklaren Funktionen und künstlich wirkenden Macken, die permanent mit dem Kugelschreiben klicken oder übernervös das (linke) Knie tanzen lassen. Das wirkt nicht nur überladen, sondern karikiert. Dabei bleiben wesentliche Fragen unbeantwortet – was nehmen Lydia und Sharon ständig für Tabletten und weshalb? Während Sharon Herzprobleme zu haben scheint, braucht Lydia offenbar stimulierendes oder beruhigendes. Wenn sie innerlich angespannt ist, von Alpträumen geplagt wird, liegt unter dem Film ein brummender Ton.
DRESDNER PHILHARMONIE
Immerhin: als Dresdner Musikfreund entdeckt und erkennt man manches wieder – allerdings dauert es eine gute Stunde, bis das Orchester zum ersten Mal spielt. Mit 158 Minuten (!) ist der Streifen schlicht zu lang. Das strapaziert nicht nur die Aufmerksamkeit, es macht auch ungeduldig. Oder fehlte der kritische Schnitt? Für viele Preise ist der Film nominiert, gleich sechsmal für den Oscar nominiert – unter anderem für den Schnitt (Monika Will).
An Versuchen, subtil anzuknüpfen oder bildungsbürgerlich niveauvoll zu sein, fehlt es dem Film nicht. Doch auch hier gilt: viel, viel zu viel! Vor allem die Gespräche zur Musik und zur Musikrezeption – die Menge der Namen ist enorm! Man muß aber ein Musikkenner sein und wahrscheinlich vor 1980 geboren sein, um all dies wahrzunehmen. Und selbst dann fühlt man sich überfordert, weil sich reale und fiktive Personennamen »kreuzen«. Irgendwann baut die angespannte Lydia ihren Frust ab und boxt Mozarts »Kleine Nachtmusik« in den Sandsack – wer merkt das noch?

Gelungen sind jedoch viele der Rollen. Nicht die Kugelschreiberklicker und auch nicht die Kniezitterer, aber die Musiker, die sich selbst bzw. ein alias spielen, wie Klarinettist Fabian Dirr oder Wolfgang Hentrich, der erst neben der »Kollegin« (Sharon) sitzt und dann in einem »historischen YouTube-Video« als Dirigent auftaucht, das aussieht, als spiele die Deutsche Streicherphilharmonie in der Dresdner Lukaskirche (Wolfgang Hentrich ist tatsächlich Chefdirigent des Jugendorchesters).
DIE SCHAUSPIELER
Natürlich bekommt Cate Blanchett für ihre Rolle die Hauptaufmerksamkeit. Für Lydia Tár ist sie durchaus in eine andere Haut geschlüpft, zeichnet deren Abnormitäten überspitzt heraus. Das ist toll, doch ist die Rolle letztlich zu nah am Klischee angelegt, fehlt das letzte Quentchen Glaubwürdigkeit. Wenn man voraussetzt – und das darf man wohl – daß der Oscar der bedeutendste Filmpreis ist, muß man auch den höchsten Maßstab ansetzen.
Überzeugender sind da andere (nur leider nicht nominiert): Sophie Kauer als Olga Metkina ist mit ihrem russischen Akzent in der deutschen Fassung schlicht umwerfend, Noémie Merlant gewinnt der unklar angelegten Assistentin Lydia Társ einiges ab. Ist sie nun Nachwuchsdirigentin oder Organisatorin? Der Film gönnt Francesca Lentini nicht mehr als ein »Mädchen für alles«, eine Projektmanagerin, doch Noémie Merlant sorgt dafür, daß das Spannungsdreieck Macht – Musik – Beziehung überhaupt erst glaubhaft aufgebaut wird.
Großartig agiert Nina Hoss (beste zweite Hauptrolle?). Meist zurückgenommen gegenüber der dominierenden Partnerin, ist Sharon Goodnow (ein Wortspiel!) letztlich die stärkere, gefaßtere der beiden. Als sie in einer Diskussion mit Lydia, weil diese ins Kreuzfeuer geraten ist, besonnen und ruhig argumentiert, ergibt sich nicht nur zwischen den beiden Frauen, sondern im ganzen Film eine der überzeugendsten Szenen. Das zeigt – es wäre mehr möglich gewesen!
So bleibt ein zwiespältiger Eindruck: manche überzogene Szene hätte wiederholt, anderes gestrichen werden können. Vor allem der Schluß [keine Sorge, er wird hier nicht verraten] – eine weitere Pirouette zu viel! Eine normale Spielfilmlänge hätte durchaus genügt, mehr Konzentration die Konturen geschärft – Chance verpaßt!
10. März 2023, Wolfram Quellmalz
Musikfreunde finden im Programmkino Ost dezidierte Sonderangebote wie Tanz:Film und Wagner.Kino.Oper. Mehr unter: