Aggregatzustände

Doppelabend mit dem Arditti Quartet an der Dresdner Musikhochschule

An Musikhochschulen werden nicht nur Lehrkräfte und Musiker ausgebildet, sondern auch Komponisten. Und die dürfen sich gerne schon frühzeitig bemerkbar machen. Wenn Partnerschaften wie mit Helmut Lachenmann oder Aribert Reimann über viele Jahre gepflegt wurden und werden, wenn Projektpartner wie das Arditti Quartet gefunden werden oder die Hochschule Multiplikatoren wie den Komponisten Mark Andre zu ihren Lehrkräften zählt, kann etwas daraus entstehen.

Arditti Quartet, Photo: NMB

Am Montag kehrte das Arditti Quartett (Irvine Arditti und Ashot Sarkissjan / Violinen, Ralf Ehlers / Viola und Lucas Fels / Violoncello) nach zwei Jahren an die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber zurück und studierte über ein intensives Wochenende hinaus ein, was Studenten der HfM in den letzten Monaten komponiert hatten. Manche Werke waren taufrisch, teils erst in der Vorwoche fertiggestellt.

Im ersten Teil des Doppelabends standen moderne Klassiker auf dem Programm, Werke, die für das Quartett oder die Sopranistin Angelika Luz zu den Meilensteinen der zeitgenössischen Musik zählen. Giacinto Scelsis Canti del capricorno (Gesang des Einhorns) Nr. XII für Stimme solo tauchte Angelika Luz in märchenhafte, mystisch-schöne Farben, während sie in John Cages »Aria« eine Collage der Imitationen über die Kontinente hinweg lebendig werden ließ. Iannis Xenakis strukturell durchdachtes, analytisches, auf Algorithmen basierendes ST/4-1,080262 für Streichquartett nahm dann einiges voraus, was im zweiten Teil folgen sollte. In Hans Zenders komplexer Mnemosyne-Vertonung fanden Angelika Luz und das Arditti Quartet einen poetischen Abschluß für die Musik, die in den letzten 70 Jahren entstanden war.

Und wie klingt die Musik von heute? In vielem gibt es Ähnlichkeiten zum Damals (vor allem Xenakis) und untereinander. Ein flirrender, fremder Klang, der aus dem nichts kommt und eine Richtung sucht, war vielen eigen, ebenso ein Wischen oder Tupfen. Klangfarben oder Stimmungen gehörten zu den Hauptmerkmalen, manchmal rhythmische Strukturen, weniger Melodiösität. Dafür kreisten Stücke oft um ein Zentrum, veränderten, verzerrten, formten um.

Und doch gab es in den acht Uraufführungen von Hristina Susak, Lauren Siess, Julia Waldeck, Juan David Muñoz, Samir TimajChi, Chongyang Zhang, Yi Yu und Julius von Lorentz nicht achtmal dasselbe. Im Gegenteil überzeugte der Abend auch im zweiten Teil mit eigenständigen Stücken (freilich unterschiedlicher Tiefe). Schon Erfahrung und Ambition unterschieden sich beträchtlich: Julius von Lorentz, dem jüngste Teilnehmer, standen mit Hristina Susak und Lauren Siess zwei erfahrene Komponistinnen gegenüber, die mittlerweile selbst an anderen Hochschulen unterrichten.

Da wundert es nicht, daß Hristina Susaks vergleichsweise kurzes Affectus IV einen sehr starken Eindruck hinterließ. Sie schien Naturklänge (Wildgänse) nachzuahmen, Lauren Siess‘ (»thawed was, destabilized … i dream of ripe and sacks«) formte solchen Naturklang (Wind in Telegraphenmasten oder Föhren) in einen technischen um.

In vielem konnte man eine Auseinandersetzung mit Zuständen finden, wie in Julia Waldecks »Verschwinden«, das zunächst einen starken Ursprung zu haben scheint, der aber zunehmend zerfasert. In »Se me olvidó otra vez« entwickelt Juan David Muñoz eine Sequenz weiter, verändert sie bis zu den Stimmen der Spieler und mit Elektronik, auch »Coloring« (Chongyang Zhang, zuvor Sächsisches Landesgymnasium für Musik), »Das Ende der Welt – ein Landschaftsbild« mit flimmernden Glissandi (Yi Yu) und »Verformungen, bis zu einem gewissen Grade tanzbar« (Julius von Lorentz) hielten ebenso Zustände fest wie sie allmähliche und radikale Veränderungen nachzeichneten. Geheimnisvoll zwischen Tröpfen und Mäusetrippeln huschte »Lullaby« von Samir TimajChi durch den Raum.

Letztlich konnte der Abend in seiner Vielfalt überzeugen – acht ganz unterschiedliche Standpunkte, Ausgangspunkte für neue Musik.

18. April 2023, Woolfram Quellmalz

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