»Fremdbestimmt« heißt angeregt

Konzertreihe mit Neuer Musik spielt mit Impulsen

Als der Cellist Matthias Lorenz 2019 seine neue Konzertreihe plante und den Titel »Fremdbestimmt« wählte, konnte er nicht ahnen, welche Brisanz das Wort seither erfahren hat. Dabei spiegelt der ursprüngliche Sinn nichts anderes wider als Ereignisse, die uns täglich widerfahren und beeinflussen, weil wir direkt oder indirekt auf sie reagieren, mit ihnen umgehen. Ob Kohärenz, Koinzidenz oder Korrelation, ob begründet, zufällig oder gesetzmäßig – das Forschen nach Zusammenhängen und Ursprüngen kann eine Anregung sein, neues zu schaffen.

So ähnlich formulierte es auch der Komponist Ian Wilson, der am Freitag für das Programm des Abends verantwortlich war, denn zur Reihe »Fremdbestimmt« gehört, daß nicht der Veranstalter, sondern ein Komponist die übrigen Werke für einen Abend zusammenstellt. Zur dritten Ausgabe im geh8 hieß es nach »Politik / Gesellschaft« (Nikolaus Brass, 2020) und »Werk / Prozeß« (Benjamin Schweizer, 2022) nun »Wissenschaft«. Ian Wilson hat sich mit der Entwicklung des Universums bis zu dessen Ende befaßt. Das war musikalisch absolut nicht zwingend, habe ihn aber auf Ideen gebracht, die er auf rein musikalischem Wege eben nicht gehabt hätte. Wilsons Stück, »A synder’d vastness«, hatte Matthias Lorenz bereits im Rahmen eines Musikalischen Online Salons uraufgeführt [NMB berichteten: https://neuemusikalischeblaetter.com/2021/03/24/urauffuhrung-online/%5D, nun erklang es im »analogen« Konzert wieder.

Erster visueller Nachweis (Photographie) eines schwarzen Lochs (2019), Bildquelle: © Event Horizon Telescope (EHT) / dpa

Eröffnet wurde dieses mit einer Uraufführung, Vladimir Koracs »Zersetzung«. Ursprünglich für Viola geschrieben, hat der Komponist später noch eine Fassung für Violoncello angefertigt, nicht zuletzt deshalb interessant, weil das Werk durch Johann Sebastian Bachs dritte Cellosuite inspiriert wurde. Die »Zersetzung« entlehnte Vladimir Korac aus der Biologie als einen Prozeß, bei dem der Zerfall eines Körpers die Grundlage für andere Organismen schafft. Sein Stück prägt somit ein konstruktiver Charakter – nicht Zerfall im Sinne von Verlust oder Zerstörung, sondern neue, rauhe Impulse, eine Satzfolge wie in einer Suite, aufgegriffene Melodiebögen, wachsende Intensitäten und mittendrin eine durchschimmernde Sarabande.

Werke von Gráinne Mulvey sind bei Matthias Lorenz bereits mehrfach erklungen. »Syzygy« spielte er (wie drei andere Stücke außer der Uraufführung) an diesem Abend jedoch zum ersten Mal. Der Titel läßt sich wissenschaftlich mit unterschiedlichen Begriffen auslegen, Planetenkonstellationen zum Beispiel. In einem Gegenüber von tiefster (eine Oktave tiefer gestimmt als normal!) und den höheren Saiten spannte Gráinne Mulvey die vielleicht eindrucksvollste »Fremdbestimmung« auf. Die Überlagerung periodischer Vorgänge in Wellen und Intensitäten war bildhaft und geradezu plastisch!

Während »Invisibilty« von Liza Lim mit einem speziellen, »irregulären« Bogen Unstetheit und Fragilität darstellt, überraschte Rebecca Saunders’ (ehemalige Capell-Compositrice) »Solitude«, als die (zuvor angefertigte) Bandaufnahme im Konzert einem Pizzicato des Solisten zu antworten schien.

Fast zwei Stunden Musik. Bemerkenswert ist, wie Matthias Lorenz dabei die Spannung hielt. Zum Abschluß gab es noch einmal »A synder’d vastness«. Während andere Veranstalter Uraufführungswerke oft vergessen, sobald sie »gezählt« sind, sorgt Matthias Lorenz immer wieder dafür, die Stücke zu etablieren. Im Falle von Ian Wilson bestätigte sich der positive erste Eindruck von 2021. Auch Wilson arbeitet mit Bandzuspielungen, sorgt für Gegensätze, klangliche Irrungen und führt eine musikalische Beeinflussung vor, ganz ohne belehrend oder zwanghaft Regeln zu folgen. Da macht es Spaß, Klänge zu entschlüsseln bis dahin, wer am Ende den Ton auslöst – das Cello oder das Band?

13. Mai 2023, Wolfram Quellmalz

https://www.matlorenz.de/

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