Grotesk, sinfonisch, ungetümlich …

Igor Levit brachte orchestrale Werke zu den Dresdner Musikfestspielen

Es war ein pianistischer Höhepunkt – binnen dreier Tage weilten Hélène Grimaud, Lang Lang und Igor Levit zu Gast bei den Dresdner Musikfestspielen. Drei Pianisten könnten (zumindest innerhalb der Klassik) in Person, Werkauswahl und Spiel kaum unterschiedlicher sein. Am Mittwoch fand der kompakte Triathlon im Kulturpalast seinen Abschluß.

Igor Levit gehört zu jenen Künstlern, die sich nicht nur in Sachen Musik, sondern als Mensch einmischen, eine Meinung haben und sagen. Insofern waren wohl viele gespannt auf das Künstlergespräch mit ihm direkt vor dem Konzert. Der Haken dabei: es fand in einem Bibliotheksraum des Kulturpalastes statt, der schon für die Einführungen der Dresdner Philharmonie arg knapp ist. Warum man das Gespräch dort plante, ist fraglich, daß es nicht in den Konzertsaal verlegt oder eine Videoübertragung eingerichtet wurde, nachdem sich eine deutliche Überbuchung abzeichnete, ist unverständlich. So hatten viele das Nachsehen.

Denn nicht nur in Sachen aktueller Fragen wäre Levit interessant zu hören gewesen, auch hinsichtlich seiner Werkauswahl – Gustav Mahlers Fragment der zehnten Sinfonie zum Beispiel, ein höchst merkwürdiges, teils schwer nachvollziehbares Stück, ist nicht nur auf der »Tristan«-Einspielung enthalten, Igor Levit spielt den Satz zudem öfter im Konzert.

Igor Levit im Dresdner Kulturpalast, Photo: Dresdner Musikfestspiele, © Oliver Killig

Am Anfang stand aber die Suite Opus 26 »1922« von Paul Hindemith (Original für Klavier). Sie vereinigt musikalisch ein aufregendes Jahr voller unterschiedlicher Einflüsse, vom Marsch bis zu Boston und Ragtime. Im fast völlig abgedunkelten Raum zirkelt Igor Levit rhythmische Dissonanzen und aufgeheizte Tanzrhythmen heraus, die teils grotesk scheinen, aber immer eine nonchalante Gelassenheit wahren. Levit spürt kleinsten, funkelnden Partikeln nach, streichelt das Nachstück fast zärtlich aus den Tasten, nachdem der Shimmy zuvor hatte donnern dürfen. Ein wenig Gaspard de la nuit schlummert in Hindemiths Suite – ein aufregendes musikalisches Panoptikum! Igor Levit bleibt gelassen, auch wenn Hustenkaskaden zwischen den Sätzen aus dem Publikum klingen – er läßt sie erst einmal vergehen und wartet ab.

Mit dem nächsten Werk verführt der Pianist zunächst seine Zuhörer – ist das nicht Tristan, zumindest Wagner? Nein, Gustav Mahlers Adagio aus der Sinfonie Nr. 10 in einer Bearbeitung von Ronald Stevenson. Ganz anders als bei Hindemiths Humor und Lebendigkeit hat der Pianist nun Schichtungen vorzunehmen, Richtungswechsel. Dennoch bleibt ein »minderer« Eindruck. Dem Sinfoniesatz fehlt nicht nur die Orchestervielfalt, sondern auch die Wiedererkennbarkeit. Vielleicht, weil letztlich vieles seriell abläuft, wo sich bei Mahler Schatten türmen?

Wie anders wirkt da nach der Pause Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 3! Dabei hat Franz Liszt sie bearbeitet, dem durchaus gelegen war, pianistische Raffinesse zu betonen. Doch Beethovens »Eroica« ist (im Gegensatz zu manchen Liedbearbeitungen) vollkommen frei davon. Doch hier war dem Bearbeiter nicht nur daran gelegen, das Werk möglichst getreu auf das Klavier zu übertragen – es ist ihm auch gelungen! Schon mit dem ersten Akkord gibt sich die Sinfonie zu erkennen und läßt darin um kein Jota nach. Im Gegenteil: Igor Levits feiner, kultivierter Anschlag und seine lustvolle Interpretation (da reckt der Pianist schon einmal kurz die Faust, wenn die rechte Hand frei ist) führt den Beethovenfreund so kundig durch das Werk, daß nicht nur die Bläsersoli zu erkennen sind und man einmal meint, tatsächlich eine Klarinette zu hören, auch die Streichergruppen treten nach und nach oder Wechselweise hervor wie beim Original.

Das Adagio assai läßt Igor Levit mit sinfonischer Leichtigkeit beginnen, als handelte es sich um eine Sonate, der Variationssatz erinnert an die gewitzten und spektakulär angereicherten Klaviervariationen, die Mozart, Haydn und ihre Zeitgenossen damals auf Flügeln mit vielen Pedalen und Effektregistern orchestral hervorzauberten.

Doch wie gesagt: die Bläser hört man mit, wie die Fanfaren. Damit reißt Igor Levit sein Publikum buchstäblich von den Sitzen. Und bietet als Zugabe als eine Art »Vogel im Käfig« bzw. noch ein humorvolles Bild Schostakowitschs Walzer-Scherzo aus den »Tänzen der Puppen«.

23. Mai 2024, Wolfram Quellmalz

Zum Nachhören: Igor Levit »Tristan«, mit: Gustav Mahler / Ronald Stevenson Adagio aus der zehnten Sinfonie, Franz Liszt Liebestraum Nr. 3, Hans Werner Henze Preludes für Klavier, Tonbänder & Orchester »Tristan«, und anderes, mit Gewandhausorchester Leipzig, Franz Welser-Möst, erschienen bei Sony

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