Das Palais im Großen Garten schlummert meist mitten unter uns seinen Dornröschenschlaf, doch regelmäßig erwacht es und zeigt Permosers Schätze, Blütenzauber oder Weihnachtsmärchen. Zwischen Ende Mai und Anfang Juni kommen ein paar besondere Gäste der Musikfestspiele – die besten Streichquartette waren hier schon zu Gast (und werden vermißt!), Andreas Staier und Christine Schornsheim spielten auf einem famosen Hammerklavier, das Café Zimmermann ließ barocke Klangpracht auferstehen. Am letzten Sonntag im Mai war nun (endlich wieder einmal) Matthias Goerne zu erleben, der gemeinsam mit Alexander Schmalcz einen Liederabend gestaltete. Wobei dem kleinen Wörtchen »gemeinsam« die allergrößte Gewichtung beizumessen ist, denn Goerne und Schmalcz sind längst mehr als kongeniale Partner, ein symbiotisches Gestalterpaar.
Natürlich gab es Schubert an diesem Abend (»Gesänge des Harfners«), zuvor aber waren »Vier Lieder« op. 2 von Alban Berg zu hören. Schon diese kreisten um die Themen Schlaf und Tod. Matthias Goerne und Alexander Schmalcz hatten dem gesamten Abend einen düsteren, ernsthaften Ton gegeben, denn mit Johannes Brahms‘ »Vier ernsten Gesängen«, Hugo Wolfs »Drei Liedern nach Gedichten von Michelangelo« und Dmitri Schostakowitschs »Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti« blieben sie dem Themenkreis und der Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Vergänglichkeit, Abschied und Tod verbunden. Kein Lichtblick schien es da zu geben, während die Dämmerung langsam den Großen Garten heimsuchte. Eine Hebung erfährt die Stimmung noch bei Hugo Wolf, bei dem sich Schwermut und Sehnsucht vor den Abschiedsgedanken rücken. Doch scheint es keine Erlösung zu geben – oder doch? Dmitri Schostakowitschs kurzer Liedzyklus beginnt hoffnungsvoll mit dem »Morgen«, welcher noch eine frohe Zukunft zu verheißen scheint, doch bereits mit dem zweiten Lied »Trennung« erstirbt dieser Schimmer.
Was in der Betrachtung der Themen so düster und hoffnungslos klingt, war dennoch ein beseelter, zu Herzen gehender, dramaturgisch feinstens ausgefeilter Liederabend. Nicht Lebensmüdigkeit oder Verdruß treiben den Wanderer, Harfner, Liebenden an, sondern die Sehnsucht. Die Erinnerung an einst nahstehende Menschen und die Auseinandersetzung mit dem (eigenen) Tod enthält auch Erlösungshoffung (kein ‑versprechen). Matthias Goerne gab dieser Hoffnung mit seinem ganzen gestalterischen Vermögen Ausdruck, nicht mit Kraft. Gerade die Leichtigkeit, das Verzagte, der Zweifel, die Verzweiflung werden zum spürbaren Element des Abends. Und wenn bei Hugo Wolf
»…Denken, Reden, Schmerz, und Wonne;
Und die wir zu Enkeln hatten
Schwanden wie bei Tag die Schatten,
Wie ein Dunst im Windeshauch.
Menschen waren wir ja auch…«
alles vergeht, wird der Windeshauch nicht gesagt oder gesungen, sondern er wird scheinbar greifbar, fühlbar – und ist es nicht, wie kondensierender Atemhauch im Winter.
Das Kunstlied hatte mit den verwobenen, dramaturgisch und psychologisch angelegten Liedern einen Höhepunkt erreicht und sich weit von denen der Berliner Liederschulen und etwa Karl Friedrich Zelter entfernt. Das Klavier ist hier längst kein Begleiter mehr, sondern eng verbunden mit dem Gesang und erfüllt die Rolle eines Mitgestalters. Dies umzusetzen, verlangt es eine geniale Paarung, die sich in dem Duo Goerne – Schmalcz jedoch gefunden hat. Da sind die Augen Alexander Schmalcz‘ immer dann beim Partner, wenn er sich fallenläßt – und die Fallhöhe ist groß, nicht nur bei Schubert. Da singt der Pianist (natürlich nur still, im Geiste) jede Silbe mit. Hier haben sich über die Jahre zwei gefunden, die weit mehr als eine CD-Einspielung und ein paar Liederabende miteinander verbindet. Einziger Nachteil: es kann süchtig machen.
Das Palais im Großen Garten wurde an diesem Abend verzaubert, auch von einem gebannten Liebhaberpublikum – kein Husten, kein Telephonklingeln, kein Zwischenapplaus – ja, das gibt es!
Wolfram Quellmalz