Matthäuspassion mit dem Collegium 1704 in der Annenkirche
Vor fünf Jahren stand zuletzt Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion auf dem Programm des Prager Collegium 1704, am Mittwoch erklang es nun erneut. Dabei war nicht nur in der Besetzungsliste einiges anders als 2014. In den letzten Jahren sind manche Dirigenten, Chöre und Orchester (wieder) dazu übergegangen, den Chor und auch das Orchester in zwei Gruppen zu teilen und im Raum aufzustellen, um entweder die Situation der Uraufführung 1727 in der Leipziger Thomaskirche nachzuempfinden oder aber dem Werk innewohnenden Effekten nachzuspüren. Das Collegium hat mit derlei Konstellationen nicht zuletzt durch die Aufführung Heinrich Ignaz Franz Bibers »Missa Salisburgensis« Erfahrungen gesammelt und ließ diese nun gekonnt in Bachs Matthäus-Passion einfließen.
Zwei fast gleichgroße Orchestergruppen mit jeweils eigenem Baß – da war im Altarraum kaum noch Platz für den Chor. Obwohl dies sonst kein Hinderungsgrund ist, hatte Leiter Václav Luks diesmal die beiden Chöre auf den vorderen Seitenemporen platziert, nur die Solisten standen vor dem Orchester bzw. (Jan Martiník als Jesus) dahinter.
Den Sinn »dahinter« konnte man schon zu Beginn (»Kommt, ihr Töchter, helft mit klagen«) erfahren, als die Textzeilen mit den eingeschobenen Fragen (Wen? Wie? Was? Wohin?) zwischen den beiden Chören pointiert und reflexartig hin- und herfluteten und blitzten, während im Orchester die Holzbläser der verlängerte Atem der Sänger waren. Prononciert und ausdrucksstark blieben beide Chöre bis zum Schluß und stellten nebenbei erneut zahlreiche Solisten wie Tomáš Šelc (Baß), Krystian Adam (Tenor), Susanne Langner oder Aneta Petrasová (beide Alt). Höchstes Ohrenmerk legte Václav Luks auf die Choräle, sorgte für eine feine Ausdifferenzierung, führte mit der Verwebung von Instrumenten und Stimmen eindrucksvolle Effekte herbei.
Kaum weniger war dies bei den Rezitativen und Arien der Fall, die mit Instrumentalstimmen begleitet waren. Krystian Adams »O Schmerz« mit Blockflöte (und Chor) gehörte ganz sicher dazu. Kurz darauf fand Jaromír Nosek (Baß) für »Gerne will ich mich bequemen« einen Ausdruck voll schlichter Güte. Zu den eindrucksvollsten Chorpassagen gehörte »Sind Blitze, sind Donner …«, die ihre Kraft aus den Affekten und nicht purer Dynamik oder Lautstärke zog. Die erstklassige Besetzung gestattete es dem Collegium, verschiedene Rollen charakteristisch auszufüllen, und so waren zentrale Arien wie »Erbarme dich« (Sophie Harmsen / Alt) oder »Mache dich, mein Herze, rein« (Hugo Oliveira / Baß) ein Genuß.
Kleine Nachteile hatte die Aufstellung des Orchesters dennoch, etwa weil die Oboen im Gegensatz zu den weiter außen sitzenden Flöten teilweise leicht verdeckt waren, auch Jan Martiník (Baß) war damit in der Verständlichkeit eingeschränkt, konnte allerdings mit Ausdruck bezaubern. Sonor und weich war sein Jesus von Nachsicht und Milde geprägt, konnte dennoch gegenüber den schlafenden Jüngern bekräftigen und fordern – fabelhaft!
Eine Matthäus-Passion steht und fällt selbstverständlich mit dem Evangelisten – dieser stand, wie man es selten erlebt. Eric Stoklossa hat sich längst als einer der Evangelisten einen Namen gemacht. Wie er an diesem Abend jedoch emotional ausdeutete, ohne seine Erzählerrolle zu vernachlässigen, wie er mit präziser Diktion bestach und innerhalb der Texte fokussierte, Verrat, Ekel oder Fausthiebe betonte, war schlicht atemberaubend! Kein Wunder, wenn sein Name längst in einem Atemzug mit (dem) ganz großen Evangelisten Peter Schreier genannt wird.
10. April 2019, Wolfram Quellmalz
Das Collegium 1704 verabschiedete sich mit dem Konzert bereits in die Sommerpause und kehrt am 25. Oktober mit Georg Friedrich Händels »La Resurrezione« wieder.