Interview Herbert Blomstedt

Am vergangenen Wochenende kehrte Herbert Blomstedt für das traditionelle Gastkonzert des Gustav Mahler Jugendorchesters zum Spielzeitbeginn der Sächsischen Staatskapelle nach Dresden zurück. Im Juli 2020 wird er dann mit dem zwölften Sinfoniekonzert der Staatskapelle dieselbe Saison beschließen. Wir hatten Gelegenheit, den Ehrendirigenten des Traditionsorchesters vorab zu sprechen:

Wolfram Quellmalz:

Herr Blomstedt, Ihre Unermüdlichkeit ist beeindruckend! Sie sind nach wie vor fleißig und neugierig, kehren immer wieder zu »ihren« Orchestern zurück und bringen meistens etwas Neues oder Ungewohntes mit. Und selbst das Althergebrachte greifen Sie neu auf, oft zyklisch – nach Beethoven und Bruckner spielen Sie jetzt zum Beispiel in Leipzig alle Brahms-Sinfonien. Doch an diesem Wochenende stehen zunächst Gustav Mahlers Rückert-Lieder und Anton Bruckners sechste Sinfonie auf dem Programm des Gustav Mahler Jugendorchesters. Sind diese Werke nur für die jungen Leute neues Repertoire oder ändert sich auch Ihre Sichtweise noch weiter?

Herbert Blomstedt:

Wenn wir die Werke nur wiederholen würden, würden sie jeden Reiz verlieren. Auch das, was wir mehrmals gespielt haben, entsteht jedes Mal neu. Die Noten, die wir vor uns haben, sind die gleichen, aber die Erfahrungen, die wir – jeder hinter seinem Pult – mitbringen, sind verschieden. Das hat nicht so viel mit dem Alter zu tun, sondern es passieren jeden Tag Dinge, die unsere Sicht auf ein Werk beeinflussen. Das ist ein Glück, daß das so ist, sonst wäre jedes Künstlertum unmöglich! Da sind vielleicht einhundert Musiker auf der Bühne, die haben alle ihre Ideen, ihre Träume und Schwächen, und dies birgt zusammen einen großen unbekannten Faktor, der in jedem Takt zu sehr schönen Entdeckungen führen kann, neue Gefühlslagen, neue intellektuelle Beziehungen – es ist sehr spannend! Es ist, als ob man sich jedes Mal auf eine Abenteuerreise begibt.

WQ:

Friedrich Rückerts Gedichte sind vor über 150 Jahren entstanden, und auch Gustav Mahlers Vertonungen liegen bereits über einhundert Jahre zurück – die Zeiten waren andere, sollte man meinen. Doch die Verse und die Musik sind voller Poesie, Sehnsucht, Melancholie – Gefühle, denen gerade junge Menschen sehr zugänglich sind. Handelt es sich bei den Liedern also um einen geeigneten »Einstieg« in die Welt der Klassik, brauchen die jungen Musikerinnen und Musiker eine »Übersetzung« oder sind die Werke so einzigartig, daß man sie auch so versteht?

HB:

Sofort verständlich sind sie vielleicht nicht, denn die Lieder sind sehr konzentriert, auch vom Text her. Jedes Wort trägt eine mehrfache Bedeutung, alles ist symbolisch! Das erste Stück geht so schnell vorbei – man hat kaum seine Ohren geöffnet, da ist es schon zu Ende. Man muß den Text am besten vorher gelesen haben. Der neugierige Blick auf das Werk, wenn es noch im »Schatten« liegt, ist irgendwie irritierend. »Blicke mir nicht in die Lider« … das ist, als ob man eine böse Tat begangen hätte und wolle sie dann verbergen. Er [Rückert] nimmt deshalb einen Vergleich zu den Bienen: die arbeiten auch im verborgenen, erst wenn das Werk, wenn der Honig fertig ist, ist man eingeladen, das zu schmecken und zu genießen. Das ist mit der Musik ebenso. Das letzte Lied erzählt von der anderen Seite des Daseins des Künstlers, sein Werk hat ihn »verschluckt«, die Welt will nichts mehr von ihm, sie ist eine Inselwelt geworden, das ist sehr bewegend! Dabei hat der Sänger einen Partner im Orchester, das Englischhorn, das den Künstler symbolisiert, sein Alleinsein, seine Träume, seine Ängste.

Das mittlere Stück bezieht sich auf »Um Mitternacht«, wo alle dunklen Gedanken kommen und Ängste, man sucht die Anwort auf die großen Weltprobleme. Die Instrumentation von Mahler ist da aber ganz anders, es gibt überhaupt keine Streicher, nur Bläser, meistens sehr zart, und nur am Ende Ende werden sie kraftvoll und gewaltig, wenn der Träumer oder Dichter sein Schicksal in die Hand des »Herrn« legt. Wer der »Herr« ist, sagt das Gedicht nicht, aber das kann jeder sich vorstellen.

Die Sätze zwei und vier dagegen sind wunderbare Liebeslieder. Im zweiten erinnert den Dichter der Lindenduft eines Zweiges an jemanden, dessen »liebe Hand« diesen Zweig gebrochen haben muß. Das Symbol des Duftes und die knappe Besetzung – es sind nur zehn Instrumente – geben eine Ahnung von dem poetischen Gefühl, das dahinterliegt. Das vierte Lied ist natürlich das vielleicht populärste. Jemanden um der Liebe wegen zu lieben (»Liebst Du um Liebe | O ja, liebe mich!«) – das ist ein sehr bewegender, zu Tränen rührender Gedanke.

WQ:

Mit Anton Bruckners sechster Sinfonie heben Sie in der zweiten Konzerthälfte ein wahres Monument auf die Bühne – oder nicht? Finden Sie – bei dieser Aufführung mit dem GMJO – die beeindruckende Erhabenheit des Werkes wichtig oder öffnen Sie die Ohren lieber für die Entdeckung von Details?

HB:

Beides ist notwendig. Die Balance zwischen der Erhabenheit, die bei Bruckner immer da ist, und die phantastischen Details befruchten sich gegenseitig, wenn es so nebeneinander steht. Diese Sinfonie ist ja eine besondere, es ist die vielleicht am meisten individuelle und ungewöhnliche. Am Anfang ist sie noch gar nicht so erhaben, ist der Anfang sehr rhythmisch geprägt. Es gibt da ein Signal, das wie ein Morsesignal in der Luft herumschwirrt. Es ist im ganzen Satz präsent und kehrt sogar im letzten noch einmal zurück. Es ist eine sehr rhythmisch geprägte Sinfonie, dieses Nebeneinander von verschiedenen Rhytmen, 2er-Rhythmus und 3er, ist sehr spannend, aber unheimlich schwer zu spielen und auch zu hören. Und die Melodien sind natürlich schön. Der zweite Satz ist wie eine Andacht vor einem Altar! Sehr lang gesponnene Melodien, wunderbare Melodien – erst beim näheren Anhören merkt man, wie diese Melodie gemacht ist, fast mathematisch ausgedacht. Daran denkt man nicht beim ersten Mal, weil das so schön ist.

Der dritte Satz, das Scherzo, ist ein Mirakel der Kürze. Bruckner ist ja bekannt für seine langen Sinfonien. Aber hier in der sechsten, faßt er sich so kurz! Er zeigt: das kann er auch, wenn er das Matreial dazu geschaffen hat. Das klingt fast wie moderne Musik von Anton Webern. Wenn man eine schöne Melodie sucht, muß man da lange suchen – der Charakter liegt anderswo. Das Trio ist noch kürzer, nur zwei Minuten das ganze Trio, aber wunderschön gemacht, schöne Melodien voller Sehnsucht.

WQ:

Sie sind ja (schon wieder!) auf Gastspielreise. Gerade waren Sie mit dem GMJO in Bozen, Salzburg, Amsterdam und Essen, nächste Woche geht es weiter: Pordenone, Frankfurt, Lissabon. Außer den in Dresden gespielten Stücken standen und stehen Dvořák (Biblische Lieder), Strauss (Tod und Verklärung) und Beethoven (dritte Sinfonie) auf dem Programm. Wie halten Sie während einer solchen Reise die Spannung im Orchester. Stellen Sie zum Beispiel Bezüge zwischen den Werken her?

HB:

Die Spannung zu behalten ist keine Kunst, besonders nicht für junge Menschen. Sie machen diese Werke zum ersten Mal, sind enorm ambitiös und enorm talentiert. Wir müssen diese Talente nur pflegen und koordinieren – das ist eine große Herausforderung und eine spannende Reise. Man sieht das nach dem Konzert, wenn der letzte Ton verklungen ist, dann umarmen die sich an jedem Pult, gibt es Küsse – das hat man so nur in Jugendorchestern. Nach zwei Stunden enormer Spannung auf der Bühne ist man sehr froh, wenn das gelungen ist und man begeisterte Zuhörer gefunden hat.

Also: die Spannung zu behalten ist überhaupt keine Kunst – die Musik ist so herausfordernd, man kann sich da nicht zurücklehnen und nur genießen und sie spielen lassen, das ist ein Spiel »auf Leben und Tod«.

WQ:

Was unterscheidet eigentlich grundsätzlich oder im Detail die Arbeit mit einem Jugendorchester, das sich nur alle paar Monate zusammensetzt und dessen Mitglieder häufig wechseln, von einer Aufführung mit einem erfahrenen Traditionsorchester der Staatskapelle? Sind das nicht zwei vollkommen unterschiedliche Welten?

HB:

Eigentlich nicht. Diese hundert Jugendlichen sind zwar jung (niemand ist über 26 Jahre alt), aber hochprofessionell. Sie haben ihr Studium abgeschlossen und haben ein enormes Verlangen, professionell einzusteigen, sind neugierig – und in ein oder zwei Jahren sitzen manche von ihnen vielleicht in leitenden Positionen bei den führenden Orchestern in Dresden, Leipzig, in Berlin und Wien. Ich mache keinen Unterschied zwischen der Arbeit mit diesen jungen Leuten oder der Staatskapelle. Der Unterschied ist, daß der Vorlauf anders ist. Mit der Staatskapelle haben wir vielleicht drei Tage, um das Konzert vorzubereiten, dann muß es fertig sein. Die Jugendorchester haben einen anderen Vorlauf. Erstens bekommen sie ihre Stimmen Monate voraus, üben dann, kommen zusammen und üben mit Assistenten, mit Spezialisten – die Geiger über mit einem Geiger, die Bläser mit einem Bläser alleine und das wird dann in einer Woche »zusammengesetzt« unter einem Assistenten, und dann kommt zum Schluß der Leiter und hat nur die drei Tage, auch mit diesen jungen Leiten.

WQ:

Und was ist das Besondere am GMJO gegenüber anderen Nachwuchsklangkörpern?

HB:

Jedes Orchester ist anders. In Sachsen haben wir das Glück, zwei großartige Orchester nur 100 km voneinander entfernt zu haben in Leipzig und Dresden. Alle beide spielen ein ähnliches Repertoire, aber sie sind sehr verschieden. Ein Orchester hat eine eigene Persönlichkeit. Das Gustav Mahler Jugendorchester ist ganz anders als das Jugendorchester der Europäischen Union, ganz anders als das Tanglewood Music Center Orchestra oder – ein anderes Beispiel, das ich sehr gut kenne – das Jugendorchester des San Francisco Symphony. Die sind alle technisch und musikalisch auf demselben Standard, aber die Zusammensetzung ist anders. Die können alle gleich gut Geige spielen und Oboe spielen, aber die Persönlichkeiten hinter diesen Instrumenten sind anders. Das macht es zu einem sehr überraschenden und wunderbaren Spiel. Man muß aber für diese Unterschiede auch Gespür haben. Man muß schon ein bißchen genauer zuhören, um die Unterschiede festzustellen und auch zu genießen.

WQ:

Zum Schluß ein Ausblick: Im nächsten Sommer kehren Sie zur Staatskapelle zurück. Worauf freuen Sie sich besonders: auf das fünfte Klavierkonzert Ludwig van Beethovens mit dem von Ihnen geschätzten Pianisten Krystian Zimerman, darauf, uns wieder einmal die Leuchtkraft vorzuführen, die in Jean Sibelius‘ fünfter Sinfonie steckt, oder auf etwas ganz anderes?

HB:

Ich finde die Zusammenstellung sehr schön! Sibelius war in Deutschland in der 1920er Jahren sehr populär. Jeder bedeutende Dirigent wie Karajan oder Furtwängler hat ihn gespielt. Karajan war ein guter Sibelius-Interpret! Furtwengler hat sich um Sibelius‘ Musim sehr gekümmert. Sein erstes Konzert in Lübeck, wo er seine erste Position als GMD hatte, hat er angefangen mit einem Stück von Sibelius. Auch als ich persönlich zum ersten Mal Furtwengler gehört habe, während des Krieges in Schweden: Furtwengler kam jedes Jahr nach Schweden. Das war das einzige Land außer der Schweiz, wo er außerhalb Deutschlands mit seinem eigenen Orchester konzertieren konnte. Erwollte nicht in Ländern spielen, wo die deutschen Truppen schon Okkupanten waren, dafür hatte er zuviel Feingefühl. Aber nach Schweden kam er sogar in diese relativ kleine Stadt Göteborg jedes Jahr. Das war ein großer Vorteil natürlich für uns.

Später im zwanzigsten Jahrhundert kam eine für Sibelius schwierige Periode. Das ist an der Person Theodor Adorno am ehesten sichtbar. Für ihn war Sibelius überhaupt kein Künstler, sondern ein Dilettant, Adorno hat die Musik nicht verstanden, und viele junge Komponisten und Musikwissenschaftler in Deutschland waren dann sehr ablehnend gegenüber der Musik von Sibelius. Jetzt kommt er wieder zurück – Gott sei Dank! Man föngt an, ihn wieder zu entdecken. Die fünfte Sinfonie ist eine heroische Sinfonie, so wie das fünfte Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven heroisch ist. Es hat ja nicht umsonst den Titel das »Kaiserkonzert« oder Emperor concerto. Sibelius hat in seiner fünften Sinfonie auch dieses Spiel von Quarten und Quinten, was so beeindruckend klingt. Im letzten Satz gibt es ein Glockenmotiv, das ist durch ein Bild inspiriert: Schwäne, die im Frühling von Süden kommen und im Norden Brutplätze suchen. Dieses Bild, wenn die Schwäne am Himmel zusmamen fliegen, das hat ihn inspiriert und er hat in seinem Tagebuch das Thema sofort notiert. Die sinfonie läuft in strahlendem, triumphalen Es-Dur aus, wie auch das Klavierkonzert von Beethoven. Beide Werke passen sehr gut zusammen!

30. August 2019, Wolfram Quellmalz

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