Evgeny Kissin im Gewandhaus zu Leipzig
Man kann Beethoven im Beethovenjahr ins Programm einflechten, man kann ihn umgehen oder Gegenpole schaffen, man kann ihm ausschließliche, ganze Abende widmen – nur eines kann man wohl nicht: Beethoven ignorieren.
Evgeni Kissin spannt einen weiten Bogen um den Eroberer, drei »namhafte« Sonaten (»Pathétique«, »Sturm«, »Waldstein«) sowie Variationen und Fuge über ein eigenes Thema Opus 35. Zwar streicht er damit durch verschiedene Lebensalter Beethovens, doch ging es ihm wohl nicht um das Aufzeigen von »Früh-«, »Mittel-« und »Spätwerk«. Kissin lotet die Werke nicht nur thematisch aus, er zeigt, wie sich Beethoven der Verarbeitung nähert, wie er zurückkehrt, wiederaufgreift, und vor allem: dieser Beethoven scheint Fragen zu stellen. Ein »Ist das so?« ist dabei ebenso immanent wie ein »Muß es sein?« oder die schlichte Frage nach dem rechten Weg.
Die Betonungen, die Achtungspunkte, scheint an diesem Abend Beethoven zu setzen. Kissin präsentiert weder den Grübler noch den Poeten – schon die »Pathétique« verschleppt die Akkorde leicht, das Drama entspringt der linken Hand, fließt mal ein, wird später energischer (den »Sturm« gibt es auch im »Waldstein«), treibt stets voran. Mit einer Ausnahme: die langsamen Sätze formt Kissin aus, verweilt. Und wenn zwar nicht in Poesie, so gerät sein Adagio cantabile aus Opus 13 doch sehr lyrisch. In den langsamen Sätzen wird er nicht nur episch, hier bleibt er fast stehen.
Für solch extreme Zuspitzung ist der Pianist bekannt – man muß nicht alles mögen. Schon seine letzte Aufnahme (Konzertmitschnitte mit Beethoven-Werken) hatten manche Sonderheit, konnten teilweise auch in der Aufnahmequalität nicht ohne Zweifel überzeugen. Was Kissin jedoch erhaben macht über jeden Zweifel, ist die Stringenz, mit der er sein Ziel verfolgt, und das Vermögen, unmißverständlich und technisch makellos – und unbeeindruckt von einer Erkältung – zu fabulieren. Da interpretiert ganz klar Evgeny Kissin, und er spielt Beethoven – Nachschöpfender und Komponist verschmelzen nicht, sondern bestehen nebeneinander auf der Bühne, ohne daß der Klavierspieler dem Urheber etwas »antun«, ihm (oder dem Zuhörer) eine »persönliche Sichtweise« aufdrängen würde. Was Kissin auftischt, hat er in der Partitur gefunden. Die Sonaten knüpft er eng – lange Pausen zwischen den Sätzen mag er eindeutig nicht – sehr zum Vorteile Beethovens.
Und dann zeigt Evgeny Kissin noch, wie sich Charaktere umschlingen oder auseinander evolvieren. In den »Variationen mit Introduktion und Fuge« Es-Dur schlüpft er, einem Chamäleon gleich, in immer neue Kleider. Auf ein Singspiel im Sopran erklingt ein fröhlicher Ländler, immer munterer steigern sich die Variationen, werden verspielt, ausgelassen, finden Ruhepunkte.
Die verspielte Ausgelassenheit läßt Kissin nach dem Schluß noch etwas weitersprudeln, fügt – vom Publikum lautstark dazu aufgefordert, noch Bagatellen, Ecossaises und Contredances an.
Und draußen ging es weiter: mancherorts mißfallen Straßenmusiker mit überlauten Darbietungen, oder weil sich Leonard Cohens »Hallelujah«, so schön es sein mag, nicht an einen Konzertabend mit klassischer Musik anfügen möchte. Doch der Flötist, der vor dem Gewandhaus die Besucher oft empfängt oder verabschiedet, hat häufig sein Programm nach dem Konzert drinnen zusammengestellt. So hört man Brahms‘ Choral aus der ersten Sinfonie, wenn diese im Großen Concert erklungen ist, oder eben Beethovens Variationen über das Thema aus der Schauspielmusik »Die Ruinen von Athen«, das Evgeny Kissin gerade in einen Zugabenreigen gefügt hatte.
26. Januar 2020, Wolfram Quellmalz