Tjeknavorian spielt Tjeknavorian
Im Frühjahr stehen (planmäßig) zwei wichtige Ereignisse in den Terminkalendern: der in Meißen stattfindende Internationale Szymon Goldberg Violinwettbewerb sowie die den ganzen Raum belebenden Dresdner Musikfestspiele. Formal voneinander unabhängig, hätten sie in diesem Jahr einen gemeinsamen Bezugspunkt gehabt: der Geiger Emmanuel Tjeknavorian reihte sich 2013 in die Riege der Goldberg-Preisträger ein. Schon einmal war er als Solist der Deutschen Streicherphilharmonie wieder in die Region zurückgekehrt, sein geplanter Auftritt am 31. Mai im Rahmen der Musikfestspiele muß nun leider entfallen. Doch hören können wir ihn: Mit den Violinkonzerten seines Vaters Loris sowie von Jean Sibelius legte er schon einmal seine zweite CD vor.
Seit dem »Solo«-Album vor drei Jahren mit Werken von Johann Sebastian Bach, Eugène Ysaÿe, Sergei Prokofjew, George Enescu, Christoph Ehrenfellner und Heinrich Wilhelm Ernst ist Tjeknavorian noch weiter gereift, denn der junge Wiener ist nicht mehr nur Violinist, sondern auch Radiomoderator und dirigiert längst selbst. Man darf davon ausgehen, daß er sich einem Violinkonzert verstärkt durch die Auseinandersetzung mit dem Orchesterpart zuwendet.
In dieser doppelseitigen Zugewandtheit bleibt Emmanuel Tjeknavorian zunächst in der Familie und sorgt mit dem Violinkonzert Opus 1 seines Vaters für eine Weltersteinspielung. Der Familienlegende nach hielt der Vater das 1956 noch während seines Studiums entstandene Werk zunächst für nicht so wertvoll (oder erhielt nicht einen entsprechenden Zuspruch). Vielleicht, weil es im Gestus zu nah am Violinkonzert Aram Chatschaturjans von 1940 ist, von dem sich der Komponist inspirieren ließ. Nun offenbart Loris Tjeknavorians Violinkonzert unter dem Bogen seines Sohnes jedoch ganz im Gegenteil einen großen Reiz. Zwar mag man die »Nähe« heraushören, doch beweist das Werk hinreichend Eigenständigkeit, ist von virtuoser Leichtigkeit, fliehenden Linien und jubelnden Flageoletts, wahrt einen tänzerischen Charakter und greift volkstümliche Anleihen auf, ohne jedoch folkloristisch zu wirken. Es ist durchdacht und konzentriert bis in eine puristische Verzückung, so daß es selbst nach mehrmaligem Hören, wenn es also nicht mehr »neu« scheint, an Gefallen nicht verliert.
Emmanuel Tjeknavorian und das hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Pablo Gonzáles heben das Stück in luftige Höhe, lassen es wirbeln und singen, einen feinen Energiestrom erzeugen, der nicht ab- und nicht niederreißt. Von diesem Einverständnis profitiert auch Jean Sibelius‘ Violinkonzert. Es dürfte für den Solisten kaum weniger Bedeutung haben als das Vaterswerk, denn Emmanuel Tjeknavorian gewann beim nur alle fünf Jahre stattfindenden International Jean Sibelius Violin Competition nicht nur den zweiten Gesamtrang, sondern außerdem den Sonderpreis für seine Interpretation des Repertoireklassikers. In der Aufnahme beeindrucken Solist und Orchester gerade mit der Symbiose aus nordischer Luftigkeit und konzentrierter Ausdruckskraft.
Dieses Singen und Klangverständnis läßt Emmanuel Tjeknavorian noch einmal in der Zugabe aufleben, mit der er erneut zu armenischen Wurzeln zurückkehrt: »Krunk« (der Kranich) von Komitas Vardapet ist ein von Klarheit und Sehnsucht geprägtes Stück, Tjeknavorian präsentiert sich als Rufer in der Wüste, der ein aufmerksames, stilles Publikum um sich versammelt hat. Erst mit dem einsetzenden Schlußapplaus merkt man, daß das Werk als Zugabe in einem Konzert mitgeschnitten wurde.
Emmanuel Tjeknavorian (Violine), hr-Sinfonieorchester, Pablo Gonzáles (Leitung), »Violin Concertos«, Violinkonzerte von Loris Tjeknavorian und Jean Sibelius sowie Komitas Vardapet »Krunk«, erschienen bei Berlin Classics
Der Szymon Goldberg Wettbewerb ist in diesem Jahr vom 20. Mai (Beginn der Meisterkurse: 18. Mai) bis 24. Mai 2020 geplant. Ob er zu diesem Zeitpunkt stattfinden kann oder auf den Herbst verschoben werden muß, ist derzeit noch in Klärung. Über eine Verlegung werden wir Sie gegebenenfalls informieren. Weitere Angaben finden Sie auch unter: http://www.goldberg-musik.com
24. April 2020, Wolfram Quellmalz
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