Nach der Weihe

Iveta Apkalna mit französischer Orgelsinfonik an der größten Orgel Asiens

Vor wenig mehr als zwei Jahren hatte Iveta Apkalna die Ehre, die Klais-Orgel in der Weiwuying Concert Hall (National Kaohsiung Center for the Arts) einzuweihen. Zum Jahreswechsel 2019 / 2020 kehrte sie zurück und zeichnete für ihre neueste CD auf, wofür die Lettin Orgelsinfonien Charles-Marie Widors und Louis Viernes auswählte. Damit eröffnete sie gleichzeitig das Vierne-Jahr – noch wenige Tage können wir sein 150. Jubiläum feiern.

Orgeln sind schon in Aufbau und Anlage individuell, noch dazu immer mit den sie umgebenden Räumen verbunden – beide prägen einander. (Die Silbermannorgel des Freiberger Doms wäre ohne den Dom auch nicht denkbar.) Unser Verständnis von Orgel ist jedoch zu einem überwiegenden Teil durch Instrumente in Kirchenräumen geprägt sowie durch sakrale Werke und nicht zuletzt einen liturgischen Gebrauch. Natürlich gibt es noch andere Traditionen, wie in den Konzertsälen Großbritanniens, ein anderes spezielles Repertoiresegment stellt die französische Orgelsinfonik dar. Bei uns erklingen auch die weltlichen Stücke häufig in sakralen Räumen – hört man dagegen beispielsweise eine Choralphantasie Bachs an einer Konzertsaalorgel, ist das zunächst gewöhnungsbedürftig.

Diese Gewöhnung umgeht die CD natürlich ein wenig. Doch viel wichtiger: Sie überzeugt durch einen vollen, kräftigen Ton der Orgel, der aber ungemein feingliedrig und -fiedrig zu werden vermag. Überhaupt scheint die Weiwuying Concert Hall über einen regelrechten Kathedralklang zu verfügen. Iveta Apkalna durchschreitet den Saal frohgemut mit Widors Allegro vivace, das gewichtigen Rhythmus mit hell aufklingendem Jubelton verbindet. Schon hier macht die Organistin deutlich, daß sie Übergänge und Steigerungen zu gestalten versteht, kehrt Gegensätze heraus, sorgt aber auch für einen Ruhepunkt vor dem strahlenden Satzschluß.

Wem nur das (oft gespielte) Finale der Sinfonie geläufig ist, der lernt hier ein vielseitiges Werk kennen und ahnt, was die Gattung Orgelsinfonie bedeutet. Gewichtig scheint zunächst das »Andantino«, das Diminutiv scheint geradezu unglaubwürdig, Apkalnas Spiel grenzt an Kraftprotzerei. Hört man dies mit einer guten Anlage, verstärkt sich der räumliche Kathedral-Effekt ungemein. Das nachfolgende Adagio holt nach, was das Andantino versprochen hatte, um sogleich ein wahres Feuerwerk abzubrennen. Denn nun kommt sie, Widors berühmte Toccata, von der Organistin effektvoll und unwiderstehlich gezündet! »Anschnallen« empfahl Claus Fischer in einer Radiorezension – recht hat er. Trotz der ungemeinen Größe von Instrument und Saal vollführt Iveta Apkalna die Toccata beweglich und sorgt für ein funkelndes Stück Begeisterung. Etwa in der Mitte der Aufnahme ist das Stück der Gipfel der Platte, so wie Bachs Chaconne im Zentrum der Violin-Partiten. Dabei lebt Iveta Apkalna keineswegs einen »Vollgasrausch« aus – sie gestaltet die Schattenseiten ebenso wie das Licht, sorgt für Echo, Hintergrund und leise Töne.

Und dann: Vierne. Deutlich jünger als Widor hatte Louis Vierne sogar noch Unterricht bei seinem berühmten Kollegen genommen. Sein Werk ist jedoch nicht nur jünger, sondern erheblich moderner und zeigt, wie weit die französische Orgelsinfonik fortgeschritten war. Doch nicht nur die Entwicklung macht die Unterschiede aus, sondern ebenso Personalstil, Geschmack und nicht zuletzt die verfügbaren Orgeln und deren technischer Stand. Insofern geht jede Wertung mit »alter« oder »neuer« Schule, höher oder weniger hoch entwickelt und ähnlichem fehl.

Wenn Widor mit klassischer Satzfolge und Effekt beeindrucken mag, verblüffen bei Vierne die Stimmungen und die Komplexität. Iveta Apkalna gelingt es, diese Vielschichtigkeit ohne einen permanenten Eindruck der Überwältigung zu erzeugen – Viernes Cantilène ist schlicht bezaubernd! Und sein Intermezzo zeugt von der Leichtfüßigkeit der Interpretin ebenso wie von der des Komponisten. Das nachfolgende Adagio entwickelt eine geradezu suggestive Kraft, im Finale wiederum steht Vierne Widor in nichts nach.

Eigentlich wäre es damit gut genug, doch Iveta Apkalna hat ihrer Aufnahme noch – wie das Encore einer Konzertzugabe – »Schafe können sicher weiden« aus BWV 208 hinzugefügt.

Dezember 2020, Wolfram Quellmalz

Iveta Apkalna (Klais-Orgel der Weiwuying Concert Hall) »Widor & Vierne«, Charles-Marie Widor: Orgelsinfonie Nr. 5, Louis Vierne: Orgelsinfonie Nr. 3, Johann Sebastian Bach: »Schafe können sicher weiden«, EDEL KULTUR / BERLIN CLASSICS

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