Für Überraschungen offen

Matthias Lorenz hat Musikalischen Online Salon begonnen

Als im vergangenen Jahr die Konzerthäuser und Veranstaltungsorte schlossen, zog auch der Cellist Matthias Lorenz ins Internet um. In drei Konzerten war er live via YouTube zu erleben und setzte seine Soloreihe virtuell fort. Von den Zuhörern blieben im Wesentlichen zwei Kritikpunkte: die Akustik bzw. der Klang und die damit verbundene Unmittelbarkeit entsprachen nicht dem, was man in einem richtigen Konzert erleben konnte, außerdem fehlte eine Möglichkeit, direkt miteinander ins Gespräch zu kommen. Für den ersten Punkt gibt es natürlich keinen Ersatz. Eine Raumklangentfaltung, das körperliche Spüren von Vibrationen, läßt sich auch mit der besten Technik nicht ersetzen. Für den zweiten dagegen bietet das Internet verschiedene Lösungen.

Der Bedarf oder Wunsch des Austausches war schon zu den »Koronzerten« festzustellen. Während der Chat von YouTube-Livestreams sonst oft dazu genutzt wird, spontane Kommentare abzugeben oder »Emojis« zu setzen, begann das Gespräch der Teilnehmer bei Matthias Lorenz’ Konzerten erst im Anschluß und mit sehr konkreten Fragen oder Antworten unterschiedlicher Tiefe.

Musikalischer Online Salon, erste Ausgabe: Matthias Lorenz (oben links) mit Gästen auf Zoom, Bild: NMB

Um Besucher stärker einzubinden, ohne daß sie spezifische technische Voraussetzungen erfüllen oder ein Programm installieren müssen, kann man Kommunikationsplattformen nutzen. Matthias Lorenz richtete parallel zum YouTube-Kanal einen Zugang bei Zoom ein, zu dem man ohne weitere Anmeldung gelangen konnte. Schließlich waren hier am Dienstagabend fünf aktive Salonteilnehmer aus Dresden, Frankfurt / Main, Plön und London beisammen, die im Bild zu sehen waren und direkt miteinander sprechen konnten. Zusätzlich gab es wie bisher die YouTube-Zuhörer, denen weiterhin die Möglichkeit des Chats offenstand.

Im Mittelpunkt des ersten Musikalischen Online Salons stand Helmut Lachenmanns Stück »Pression«, von dem Matthias Lorenz zunächst den ersten Teil spielte (das gesamte Stück folgte am Ende). Um eine anschließende Diskussion anzuregen, hatte er den Soziologen Jost Halfmann für eine Einführung eingeladen, außerdem nahmen die Komponisten Gilberto Agostinho, Friedemann Schmidt-Mechau und Franz-Michael Deimling teil. Halfmanns Anstoß war weniger musikalischer oder analytischer Natur. Er ging zunächst davon aus, daß Musik – wie Religion oder Statistik – eine Fiktion sei, die wir wahrnehmen und sinnhaft deuten und stellte den Zusammenhang mit Kommunikation und deren Fehlbarkeit her.

Mag der erste Salon noch ungewohnt gewesen sein, für manche auch im Umgang mit der Technik, so ergaben sich dennoch interessante Diskussionspunkte, die beim Begriff des Atonalen (bzw. der Atonikalen) begannen und bis zur Uraufführungssituation der Sinfonien Beethovens reichten. Die Interpretation und das »Verstehen« von Musik ist schließlich nicht frei von Deutungsversuchen und Mißverständnissen, Helmut Lachenmanns Musik sei mit ihrem experimentellen Charakter gerade eine Einladung, daran teilzunehmen. Wer dies unvoreingenommen tue, habe dabei den größeren Gewinn. Das zeigten zum Beispiel Schulprojekte mit Kindern, von denen die Salonteilnehmer berichten konnten.

Helmut Lachenmanns »Pression« hat Matthias Lorenz in etwa 25 Jahren 23 Mal gespielt. Bis 2010 sei danach eigentlich immer in der einen oder anderen Form (oder Formulierung) die Frage an ihn herangetragen worden, wie lange man das Stück spielen könne, bis das Cello entzweigehe. Ist das Ausbleiben dieser Frage seither vielleicht ein Zeichen für eine größere Aufgeschlossenheit des Publikums?

Der Titel »Pression« läßt sich zunächst relativ einfach mit »Druck« übersetzen. Deren gibt es aber viele, vom Zeit- bis zum Schalldruck. Für den Interpreten des Stückes bedeutet es, auf seinem Instrument und auf dem Bogen, am Steg, längs und quer zu den Saiten, Klänge zu erzeugen, die geräuschhaft sind (sein dürfen), sich dennoch aus Tönen zusammensetzen. Es ist eine experimentelle Einladung auch an die Zuhörer – sich dem zu verweigern hieße, ein ganzes Spektrum auszuschließen (Halfmann).

Natürlich lassen sich räumliche Vibrationen im Internet nicht wie im Konzertsaal nachvollziehen, doch bietet die Kamera auch eine andere Unmittelbarkeit. Während es im Konzert mit dem jeweils gegebenen Raumlicht Momente der Unbestimmtheit gibt (Spielt der Cellist noch oder ist das Stück zu Ende?), ist das Bild im Stream natürlich dichter dran und offenbart die Situation anders, direkter, nüchterner. Und man kann das aktive Publikum anders beobachten, als dies im Konzertsaal möglich und angebracht wäre. Das Ergebnis des Salons schließlich wird stark von den Teilnehmern bestimmt. Neugierige sollten also vorbeischauen!

20. Januar 2021, Wolfram Quellmalz

Der Musikalische Online Salon #2 findet am 9. Februar statt. Dann wird ein Stück von Gilberto Agostinho im Mittelpunkt stehen, der als Gast anwesend sein und über algorithmisches Komponieren sprechen wird. Bereits eine Woche zuvor steht ein Einführungsvideo zur Verfügung. Termine, Video, Zugangsdaten unter: http://www.matlorenz.de/mos Der Salon #1 vom vergangenen Dienstag kann auf YouTube nachgesehen werden.

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