Zweiter Musikalischer Online Salon
Mit zwei Fassungen des Stückes »Jamais vu« (französisch für »nie gesehen«) fand Matthias Lorenz‘ Musikalischer Online Salon am Dienstag seine Fortsetzung. Im Mittelpunkt stand ein Werk, das der brasilianische Komponist Gilberto Agostinho 2017 für ihn geschrieben hatte – eines, das es in theoretisch beliebig vielen Fassungen gibt. Matthias Lorenz hatte die ersten (Versionen A, B, C und D) bereits erarbeitet und in Konzerten gespielt und stellte »Jamais vu D« noch einmal an den Anfang. Nach dem Salongespräch schloß er den Abend mit der Uraufführung der Fassung E ab.

Der Kreis der aktiven, über die Plattform Zoom zugeschalteten Teilnehmer reichte auch diesmal bis nach London, außerdem nach Liverpool und in die Schweiz. Mit René Wohlhauser (Komponist), Andrew Simmons (Komponist / Produzent) und der Musikwissenschaftlerin Christine Dysers war er seit dem letzten Mal etwas gewachsen, auch die Zuschauerzahl auf YouTube lag höher als beim Salon vor drei Wochen. Und: sie blieb bis incl. der Nachbesprechung stabil – nicht nur das Thema, auch das Format scheint also anzukommen. Dabei wird im MOS vor allem geredet und diskutiert, die Aufführungen zu Beginn und am Ende (jeweils knapp 4:30 min) nahmen einen im Verhältnis deutlich kleineren Teil ein.
Gilberto Agostinho entwickelt für seine Kompositionen besondere, auf Algorithmen basierende Verfahren. Damit hebt er den Zwang von durch Regeln herbeigeführten Festlegungen auf, schafft Möglichkeiten. Sein Stück ist daher variabel, wird mit jeder Aufführung neu geschaffen. Ein Stück entspricht damit vielen möglichen Ergebnissen. Trotzdem ist »Jamais Vu« nicht beliebig, trotzdem hat es einen eigenständigen, typischen und erkennbaren Charakter, wovon man sich am Ende überzeugen konnte.
Das Entstehen und die Wahrnehmung von Unterschieden verschiedener Fassungen differieren ihrerseits ebenfalls, wie Matthias Lorenz an einem Beispiel (dem Beginn der Versionen D und E, ähnlich bereits im Vorbereitungsvideo zu erleben) zeigte und Gilberto Agostinho kommentierte. Die Auswahl der Noten (bzw. die Folge) wird (algorithmisch) durch Zufallsentscheidungen beeinflußt. Den Rahmen für diese Entwicklung gestaltet jedoch der Komponist, das Stück erscheint daher nicht mathematisch kalkuliert und enthält Deutungsmöglichkeiten bzw. Unsicherheiten. So ist sich Matthias Lorenz nach Kenntnis der fünf Versionen sicher, daß das Stück weicher (softer) / leiser beginnt, als es endet. (Später in der Nachbesprechung ging Gilberto Agostinho noch einmal auf die Prozedur der Zufallsentscheidung ein – könne man zum Beispiel einer Festlegung anmerken, ob sie durch den Wurf einer Münze oder eine willentliche Entscheidung ermittelt worden sei?)
Die Diskussion um musikalische Partikel, Muster (Patterns), dynamische Stufungen, Entscheidungen […] in dieser speziellen Disziplin der zeitgenössischen Musik war sehr theoretisch, abstrakt, erfordert einiges Mitdenken, doch war sie lohnend – insofern sei Interessierten das YouTube-Video zum Nachsehen empfohlen, statt daß hier eine inhaltlich vollständige Wiedergabe versucht werden soll.
Interessant, ja erstaunlich war, daß auch diese Musik, die ja irgendwo extrem ist, weil sie nicht unseren Gewohnheiten von Tonalität, Melodie oder Harmonik entspricht, einen Wiedererkennungswert hat und »Jamais vu« durch das Kompositionsverfahren Identifikationsmerkmale eingepflanzt wurden, so daß am Ende des Salons die Verwandtschaft der beiden Fassungen von »Jamais vu« klar zu erkennen war – Gestus und Puls, der Wechsel von impulsiven oder hektischen Passagen mit Ruhephasen und ähnliches prägen einen klaren Charakter.
11. Februar 2021, Wolfram Quellmalz
Der Musikalische Online Salon #3 ist für den 2. März geplant (Vorbereitungsvideo am 23. Februar). Im Zentrum stehen dann Iannis Xenakis und sein Stück »nomos alpha«. Als Gast wird Wolfgang Bosse über den Nutzen und die Wirkung von Determinismus in der Kunst sprechen. Weitere Informationen zu den Salons, zu Videos, Themen und Stücken sowie zur Finanzierung und Möglichkeiten zur Unterstützung finden Sie unter: http://www.matlorenz.de/mos