Dresdner Musikfestspiele starten mit Arcadi Volodos »richtig«
Nach dem virtuell gestreamten Vorstart konnte nach mehr als zwei Jahren wieder ein Publikum im Dresdner Kulturpalast ein Konzert der Dresdner Musikfestspiele besuchen. Kein festliches Eröffnungskonzert mit Orchester – das Dresdner Festspielorchester legt aber heute abend mit Beethoven im Doppelpack sogleich nach – eine kleine Eröffnung, zwei Reden mußte es dennoch geben. Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert und Festspielintendant Jan Vogler faßten sich aber bewußt kurz, freuten sich, daß es »endlich, endlich, endlich« wieder losgehe mit der Musik (Hilbert) und Jan Vogler gar nicht auf die zurückliegenden Monate, wie sie uns ergangen sei, zu sprechen kommen wolle – auch für ihn war es das erste Konzert seit Monaten.
Und damit war die Bühne frei für Arcadi Volodos, einen der phänomenalsten Pianisten überhaupt derzeit. Da muß man seine »Generation« gar nicht erst einbeziehen – Volodos ist stetig dabei, sich im Gipfel des Pianistenolymps einzurichten, neben ganz wenigen anderen, wie Grigory Sokolov, Pierre-Laurent Aimard vielleicht und … (?)
Wie schade, daß er für das c.-gerechte Konzert eines der Werke auslassen mußte. Dem fiel leider Muzio Clementis Sonate fis-Moll zum Opfer – vielleicht kommt Volodos ja bald wieder und bringt sie noch einmal mit? Immerhin bemühte er sich nicht nur, er glich den Verlust vom Anfang mit fünf Zugaben aus.
Zuvor gab es zwar altbekanntes Repertoire, solches, das der Pianist seit Jahren pflegt, nur ist das hier einmal kein bißchen als (negative) Kritik gemeint. Erstens fördert eine solche Pflege in so besonderen Fällen eine unglaubliche Reife und Qualität zutage, andererseits ist es mehr als ein Mangelsausgleich, wenn man endlich wieder einmal eine große Schubert-Sonate im Konzertsaal hören darf. Das im Deutsch-Verzeichnis unter Nr. 894 eingetragene G-Dur-Werk hat der Pianist vor zwanzig Jahren schon einmal aufgenommen. Im Wiener Sofiensaal, es war die letzte Aufnahme, bevor dieser abbrannte. Die Sofiensäle wurden durch einen Neubau ersetzt (Einweihung 2013), Volodos‘ großartige CD ist momentan vergriffen und nur im Musikantiquariat oder beim Spezialisten zu finden – suchen lohnt, denn auch das Sonatenfragment D 157, das sie enthält, ist unter Arcadi Volodos‘ Händen ein Prachtstück.
Was macht ihn denn aus, den herausragenden Pianisten? Zunächst eine unglaubliche Anschlagskultur, eine, die den Begriff »Anschlag« im Grunde ad absurdum führt. Denn Volodos »schlägt« nicht, er hämmert vor allem nicht wie manch anderer Pianist, er spannt ein heterogen-polyphones Ausdrucksspektrum auf, kann ebenso dramatische Kontraste ausformen wie darin feinste Schattierungen schaffen. Und sein Piano ist schlicht, fein, zart, beinahe zärtlich – Gänsehaut!
Daß sich ein Ausnahmekünstler nicht nach einer »Schule« richten muß, versteht sich von selbst. Zur Ausnahme macht ihn, daß er über das stupende Beherrschen einer Technik hinaus seine eigene Handschrift nicht vordergründig ausspielt, sondern in einer authentischen Gestaltung offenbart. »Wien, ach Wien« schien das Andante zu singen (selbst wenn sich Alfred Brendel einst zu recht gegen ein zwingend wienerisches Idiom, daß bei Schubert zu finden sei, wehrte), das nachfolgende Menuett trieb Volodos forsch, fast alla marca, an. Solche dramatischen Kontraste sind es, die dem Pianisten immer wieder glaubhaft gelingen, die Tiefe schaffen statt Effekte zu belasten – letzteres würde auf die Dauer nur ermüden.
Um eine winzige Pause bat der Pianist dann doch. Wie hätte er denn die Klavierstücke Opus 118 von Johannes Brahms direkt anschließen können? Die im Vergleich Miniaturen wollen ebenso betrachtet werden, nur nicht mit großen Schritten, sondern eher in stiller Versunkenheit. Auch hier formte Volodos Szenen, die sich gerne dramatisch zuspitzen durften. Rhapsodisch leuchtete das erste Intermezzo, das zweite geriet zur Träumerei – es sind vor allem solche stillen, zarten Passagen, die den Zuhörer schwärmen lassen, während er sich von den impulsiven mitgerissen, aber nie »überfahren« fühlt, wie der stürmischen Ballade. Das dritte Intermezzo geriet Volodos als ein heller Quell, wie ihn die Schumanns zu einem Lied geformt hätten, während er im letzten die Tür zu Chopin aufzustoßen schien.
Übergreifend und verbindlich ist dieser Pianist, eine Ausnahmeerscheinung, die sich in den Zugaben zunächst noch bei Brahms und Schubert in den Formen des Andante vertiefte, die hellwach und konzentriert blieben wie eine beruhigende, kraftspendende Meditation, bevor Volodos in den irisierenden Gründen des Katalanen Federico Mompou einem weiteren Lieblingskomponisten nachspürte und sich schließlich – sehr frei, schien’s – über einen Wiener Walzer erging.

5. Juni 2021, Wolfram Quellmalz