Nord – Süd, Süd – Nord

Juanjo Mena und Javier Perianes sorgen im Dresdner Kulturpalast für gesamteuropäische Farbenpracht

Nein, der verzögerte Konzertbeginn hatte nichts damit zu tun, daß die Beteiligten noch ein Spiel der »letztjährigen« Fußball-EM »zu Ende sehen« wollten – die Dresdner Philharmonie geht (wieder einmal) voran und öffnet ihren Konzertsaal für so viele Besucher wie möglich. Die Angebotserweiterung erfordert aber strengere Hygieneregeln, da mehr Gäste auch das teilweise Unterschreiten des Mindestabstandes bedeutet. So darf man Konzerten nur mit einem entsprechenden Negativnachweis beiwohnen. Manche Besucher hatten dies übersehen, doch das Testzentrum ist im Haus stationiert und kann schnell helfen. Ein wenig warten mußte man dann aber auf die nachgeschobenen Tests. Doch war dies kein Problem, Intendantin Frauke Roth hatte in ihrer kurzen Begrüßung auf den Grund für die Verzögerung hingewiesen – das Verständnis war gegeben.

Wie auch nicht, wenn einer wie Juanjo Mena zurückkehrt? Schon viele Abende mit ihm waren beglückend verlaufen. Als Schlüsselerlebnis erinnert sich der Rezensent an ein Konzert während der »Wanderjahre« der Philharmonie im Dresdner Schauspielhaus. Die trockene Akustik des Sprechtheaters verhieß an sich keine günstigen Umstände für Anton Bruckners sechste Sinfonie – doch sie wurde ein phänomenales Erlebnis!

Nun sind die »Wanderjahre« gottlob vorüber, die Luftigkeit und Durchsichtigkeit, die ein Juanjo Mena zu erwecken vermag, fallen nicht nur auf fruchtbaren Boden, sie können sich geradezu paradiesisch entwickeln. Und mit einem Pianisten wie Javier Perianes an der Seite treten auch bei Edvard Griegs Klavierkonzert jede Schaueffekte in den Hintergrund, dafür werden feinnervige Kantabilität, Echobeziehungen und verflochtene Themen deutlich. Dabei vertraute Mena auf die »amerikanische« Sitzordnung (Violinen links, Violen gegenüber), vielleicht, um die sinfonische Dichte zu betonen. Gegenüberstellungen liegen bei Grieg ohnehin weniger in den ersten und zweiten Geigen, sondern finden ihre Entsprechung in Streichern, Bläsern und Klavier.

Schon der markante Einstieg war frei von oberflächlichem Glitzern, statt dessen warfen sich Philharmoniker und Solist die Themen förmlich zu, deren Nachhall sich bis zum Fagott und den Kontrabässen verfolgen ließ. Überhaupt betörten Mena und Perianes gerade mit ihrer Geschlossenheit, darin, weder oberflächliche Brillanz herauszustellen noch mit romantischer Poesie allein eine Wirkung erzielen zu wollen – so eindimensional denken offenbar beide nicht. Großartig, wie KV Ulf Prelle am ersten Pult der Celli das Thema aufnahm, wie es von ihm in die Gruppe und dann zu den Bläsern wanderte. So ergaben sich jene weiten nordischen Landschaften, wie sie auch in Jean Sibelius‘ Sinfonien zu finden sind. Juanjo Mena dirigierte sehr differenziert und äußerst zugewandt, Javier Perianes kultivierter Anschlag hebt ihn wohl über manche seiner Kollegen – man wünscht sich nicht nur (s)eine Wiederkehr, sondern auch, ihn in anderen Rollen, als Rezitalsolist oder als Kammermusikpartner, zu erleben. Einen kleinen Vorgeschmack gab es mit der Zugabe, dem Notturno aus den Lyrischen Stücken von Edvard Grieg (Opus 54).

Kürzlich wurde im Radio ein Essay »Die Klassik ist tot, es lebe die Klassik?« gesendet. Die Autorin forderte darin nicht nur, den Frack auszuziehen, sondern erging sich in zweifelhaften, ja befremdlichen Thesen zu Konzerttradition und »notwendigen« neuen Formen. Offenbar hat sie die innovative Kraft von Orchestern wie der Dresdner Philharmonie (wohlgemerkt lange vor C.) dabei ebenso übersehen, wie ihr die »traditionelle« Gestalt des Konzerts aus kleinem Ouvertürenstück, Solistenkonzert und Sinfonie abstrus scheint. Nur sollte man beachten, daß das Format nicht aus marketingstrategischen Erwägungen festgelegt wurde, sondern sich über Jahrhunderte entwickelt hat – eine Entwicklung, die keineswegs abgeschlossen ist. Die Krönung der Sinfonie nach der Pause (oder am Schluß) jedenfalls hat vielen gefehlt, um so erfreulicher war es gestern, daß Juanjo Mena einen Beitrag aus der Königsgattung mitbrachte. Juan Crisóstomo de Arriaga (1806 bis 1826) aus dem heutigen Bilbao (Autonomen Gemeinschaft Baskenland) stammend, ist fast ein Landsmann des in Vitoria-Gasteiz (Provinz Araba) geborenen Mena – fast, aber nicht ganz. Doch ob »spanischer Beitrag« oder iberisches Mitbringsel – die Sinfonía a Gran Orquesta in D, 1824 entstanden, offenbarte, weshalb man den Komponist auch als »spanischen Mozart« bezeichnete. Man könnte tatsächlich Anklänge an die »Zauberflöte« oder »Don Juan« ausmachen, doch de Arriaga offenbart eine ganze, nah der Oper gelegene Metaphorik, zeugt von Aufbruchstimmung, einer virtuosen Romantik wie Louis Spohr, und weist auf Komponisten wie Gouvy voraus – man möchte, doch man kann sich schlicht nicht ausmalen, was ihm noch gelungen wäre, hätte de Arriaga doch wenigstens nur ein Leben in Beethoven’scher Länge gehabt.

Juanjo Mena ließ das Jugendwerk auflodern, spornte die Philharmoniker an, ließ Motive durchglühen und tänzerisch flackern, die feine Dosierung kam ihm dabei nicht abhanden. Vom Publikum bekam er dafür viel Applaus, nicht nur der Sinfonie allgemein wegen, sondern für dieses ganz besondere Gastgeschenk.

20. Juni 2021, Wolfram Quellmalz

Schon in einer Woche geht es sinfonisch weiter. Am Sonntag (27. Juni) kehren der ehemalige Gastdirigent Markus Poschner und der Gewinner des Szymon-Goldberg-Wettbewerbes, Emmanuel Tjeknavorian mit Max Bruchs erstem Violinkonzert und Anton Bruckners »Nullter« Sinfonie zurück. Weitere Informationen unter: http://www.dresdnerphilharmonie.de

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