Klangsinnige Überraschungen

Sonderkonzert der Staatskapelle mit dem aktuellen Capell-Compositeur

Dafür, daß sich am Donnerstagabend nur eine überschaubare Besucherzahl in der Semperoper einfand, mag es verschiedene Ursachen geben. Die Kurzfristigkeit des Kartenvorverkaufes gehört sicher dazu – nicht nur der Wagemut der Neugierigen, die ganze Spielzeit scheint irgendwie gebremst. Vielleicht war die Programmfolge unter diesen Umständen zu wenig reizvoll? Einerseits enthielt sie kein wirkliches »Zugpferd«, das dem Werk des Capell-Compositeur Matthias Pintscher gegenüberstand, im Vergleich zu den langen Abenden mit Komponistenportraits wie in Hellerau wiederum schien der Fokus zu gering. Schien – denn jene, die da waren, können bezeugen, daß es absolut ein fokussiertes Konzert war. Mehr als sonst noch konnte man einen Capell-Compositeur erleben, der das Dirigieren nicht nur beherrscht, sondern es über die Aufführung eigener Werke hinaus mit konkreten Vorstellungen ausfüllt. Und sind ganz besonders auf eines aus: Klang.

Das mag banal klingen, doch es ist essentiell. Spricht man mit älteren Dirigenten und fragt sie, was bei einer Aufführung eigentlich das wichtigste sei, so liegt »Klang« an erster Stelle. Matthias Pintscher sucht den Klang in eigenen Werken, wie dem an diesem Abend aufgeführten »Neharot«, doch auch Anton Weberns »Im Sommerwind« und mehr noch Sergej Rachmaninows Sinfonische Tänze Opus 45 offenbarten eine Klangsinnigkeit, die – bei Webern – in Sinnlichkeit umschlagen konnte. Der Name Webern muß – sowenig wie Schönberg – abschrecken, sein frühes Werk ist harmonisch wohlgefällig (auch wenn »moderne Ohren« es harmlos nennen würden) und scheint einen vom Wind belebten Sommertag zwischen den Dämmerungen nachzuzeichnen. In Sergej Rachmaninows Sinfonischen Tänzen suchte Matthias Pintscher weniger nach tanzbaren Rhythmen, selbst wenn der Komponist einmal ein Tempo di valse vorgeschrieben hat. Vielmehr lotete der Dirigent Pintscher das Miteinander der Stimmen aus, welche die Kapelle schichtete, formte, erwiderte.

Damit hatte sich nach der Pause auf besondere Weise fortgesetzt, was zuvor begonnen hatte: in »Neharot« (hebräisch für »Flüsse«) für großes Orchester (deutsche Erstaufführung) hatte Matthias Pintscher zu Beginn der Pandemie eine Stimmung festgehalten – jene des New York vom Frühjahr 2020. Das Werk ist all jenen Menschen gewidmet, die wir in dieser Zeit verloren haben. »Neharot« läßt zunächst einen Klang erstehen, der von verschiedenen Erregungszentren ausgeht, seine Impulse, seine Energie und emotionale Empfindungen weitergibt. Nachdem dieser Klang anfangs zunächst noch nicht greifbar schien, zeigten sich mehr und mehr wiedererkennbare Motive und nachvollziehbare Bezüge, Matthias Pintscher wob immer wieder uneindeutige und Zwischenklänge ein, Zirpen, Raunen und Luftströmungen.

In der Sächsischen Staatskapelle fand der Capell-Compositeur einen neugierigen, aufgeschlossenen Partner, der bereit war, feinsten Verästelungen zu folgen, winzige Soli einzubinden und immer wieder Klangbrücken zu schlagen. Vielleicht war das das beeindruckendste, das »Neharot« nicht von einem Motiv getragen wird, sondern von einer musikalischen Idee, die das Stück im Titel trägt – Flüsse. Selten spiegelt sich das Ansinnen eines heutigen Komponisten in seiner Musik so klar wider wie hier! Die dreifache Transformation (Niederschreiben der Idee, Umsetzung der Notation in der Aufführung, Anhören des Resultats) ist gelungen, gleichzeitig konnte Matthias Pintscher seine Visitenkarte als Dirigent hinterlassen – dafür gab es begeisterten Applaus.

4. Februar 2022, Wolfram Quellmalz

Das nächste Werk des Capell-Compositeurs gibt es im 7. Symphoniekonzert im März. Dann steht »Chute d’Étoiles« (Sternenfall) für zwei Trompeten und Orchester auf dem Programm. Weitere Informationen unter: http://www.staatskapelle-dresden.de

Schreiben Sie einen Kommentar

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Wechseln )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Wechseln )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Wechseln )

Verbinde mit %s