Eine etwas andere »Winterreise«

Henryk Böhm und Jan Philip Schulze im Konzertsaal der Musikhochschule Dresden

Die erste gute Nachricht war: die Reihe »Lied in Dresden« existiert weiter. Die zweite gute Nachricht: der für einen früheren Zeitpunkt geplante und ausgefallene Abend mit Franz Schuberts »Winterreise« wird nachgeholt – gestern kam der Liedzyklus mit Henryk Böhm und Jan Philip Schulze auf die Bühne des Konzertsaales in der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Henryk Böhm ist hier schon manchmal zu erleben gewesen, das besondere diesmal lag vor allem bei seinem Begleiter, denn Jan Philip Schulze spielte auf einem Hammerflügel. So hatten sich die Künstler der Situation der Schubertiaden zumindest nähern wollen. Allerdings liegt darin auch ein Wagnis, denn das Klavier klingt doch sehr anders, als wir es gewohnt sind. Und unsere Gewohnheiten bei der »Winterreise« wurden eben nicht nur durch Peter Schreier geprägt, sondern nicht weniger durch den modernen Konzertflügel.

Das Experiment gelang – teilweise. Denn natürlich muß man die Gesamtsituation als Kompromiß oder »Zwitter« sehen. Die Schubertiaden im Freundeskreis, bei denen der Komponist oft selbst am Klavier saß, fanden nicht im Konzertsaal statt, sondern in privaten Salons und Räumen, die deutlich kleiner und intimer waren – so wie auch das Instrument. Selbst wenn der Hammerflügel (bzw. sein historisches Vorbild) in die Zeit paßt, gehörte er damals doch eher in ein großes Konzert. Unsere Ohren heute finden an ihm viele Farben, die ein moderner Steinway nicht (mehr) bietet, dafür übertreffen ihn moderne Konzertflügel in der Dynamik sowie im silbrigen, hellen Klang. Spätestens, als »Am Brunnen vor dem Tore« angestimmt wurde, vermißte man solche Silbrigkeit, empfand den Hammerflügel im Vergleich als dumpf.

Womit der Versuch oder das Experiment aber nicht als fehlgeschlagen angesehen werden soll. Denn es offenbarte Momente, die so kaum einmal erlebt werden können. »Wie still bist du geworden« (»Auf dem Flusse«) zum Beispiel ging sagenhaft unter die Haut! Und schon zuvor hatten Baßtöne die Schwere fallender Tränen auf beglückende Weise dargestellt (»Gefrorne Tränen«). Auch zeigte sich: das Instrument, der andere Klang, verändert im Grunde alles, denn die Balance muß neu gestimmt werden. Hochinteressant war, zu verfolgen, wie Henryk Böhm und Jan Philip Schulze hier aufeinander eingingen, Rücksicht nahmen. Der Gestaltungswille war groß, manche Betonung geriet übermäßig, schien opernhaft, wie das bebende Vibrato im Lied »Wasserflut«. Doch gerade mit solchen Schärfungen schafften Henryk Böhm und Jan Philip Schulze andererseits, das darf nicht verschwiegen werden, immer wieder kleine Höhepunkte. Klar ist die »Winterreise« ein Liedzyklus, aber er enthält eben einzelne Ereignisse, die – nicht zuletzt mit ausgewogenen Pausen gut eingeteilt – zu kleinen Balladen wuchsen (»Im Dorfe«).

Schubertiade mit Franz Schubert am Klavier und dem Sänger Josef von Spaun neben ihm (sitzend) und weiteren Freunden, Sepia-Zeichnung von Moritz von Schwind (1868), Wien Museum, digitales Bild: Wikimedia commons

Das Wagnis wurde am Ende belohnt, vor allem, weil es die Zuhörer anrührte. So durften noch zwei Zugaben folgen, die Henryk Böhm und Jan Philip Schulze à la Schubertiade (mit dem neben dem Pianisten sitzenden Sänger) vortrugen: An den Mond (D 193) sowie Wanderers Nachtlied II (D 768).

14. März 2022, Wolfram Quellmalz

Die nächsten Termine für das Lied in Dresden stehen fest: am 10. April kommen Studenten der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« in den Konzertsaal der HfM, am 26. Mai gastiert die Reihe mit in der Abfüllhalle des Weingutes Schloß Wackerbarth mit Liedern von Carl Loewe, Franz Schubert, Robert Schumann, Hugo Wolf und Richard Wagner. Weitere Informationen unter: www.hfmdd.de

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