Klippen und Klüfte

Christian Thielemann und die Sächsische Staatskapelle zelebrieren Mendelssohn und Zemlinsky

Darauf hatten manche gespannt gewartet: Christian Thielemann hat sich schon oft zu und über Mendelssohn geäußert – weniger des »Geschmacks« wegen, sondern in bezug auf dessen Bedeutung für die Musik, seine Kompositionsweise, an der – ja! – auch Wagner sich etwas »abgeschaut« hatte. Insofern war und ist es natürlich interessant, Thielemanns Mendelssohn-Auffassung zu erleben. Am Wochenende stand die »Schottische Sinfonie« auf dem Programm der Sächsischen Staatskapelle.

Christian Thielemanns Mendelssohn ist, um es kurz zu sagen, unerhört. Das meint, daß man wieder einmal das Gefühl hatte, ein Werk so noch nie zuvor gehört zu haben. Und das war zunächst, unabhängig von allen Details und deren Ausformung (wobei der Geschmack dann doch zählt), schon deshalb gut, weil Christian Thielemann Felix Mendelssohn und sein Werk ernstnimmt. Zwar gehört die »Schottische« zu den beliebtesten Werken des Komponisten, doch wird sie oft in eher »leichte« Programme aufgenommen, vielleicht der »Italienischen« oder der »Hebridenouvertüre« gegenübergestellt. Daß sie ein Konzertprogramm dagegen abschließt, wie es für Sinfonien üblich ist, erlebt man eher selten.

Bei der Sächsischen Staatskapelle durfte sie das Programm sogar beginnen. Die Bläser eröffneten das Werk sagenhaft schmeichelnd, als schlössen sie sanfte Meereswogen ein. Schottland und seine Küste können jedoch auch schroff und kantig werden –Christian Thielemann ließ das Thema stetig wachsen und ergründete in den gebundenen Sätzen dramatische Tiefen, die jede (sonst so oft erlebte) Beschaulichkeit mit der Urkraft eines Naturschauspiels beiseitefegten. Die Gewitterszene des ersten Satzes brauste und rauschte, die Sächsische Staatskapelle ließ noch darin in ihrer Konturschärfe um kein Jota nach – verblüffend! Denn es waren innere Spannung und Dichte, die sich hier auftaten und keine überzeichneten naturalistischen Schilderungen! Kaum weniger erstaunte, wie Christian Thielemann die Gegensätze von stürmischer Jagd und romantisch frohem Sinn verband, statt sie banal gegenüberzustellen – ließe man sie aufeinanderprallen, würde nur das stärkere Element dominieren, so jedoch blieb die Ambivalenz von berauschender Schönheit und ungestümer Natur (oder Leidenschaft) erhalten. (Der auf Walter Scott zurückführende Programmhefttext schien so geradezu zwingend.)

Im zweiten Satz – von Mendelssohn als Vivace non troppo bezeichnet – formte die Staatskapelle als pastorales Idyll, aus dessen Mitte Robert Oberaigners Klarinette zauberhaft herausleuchtete, das Adagio (ein stürzender Bach?) begeisterte mit seiner Spannkraft, während das Allegro vivacissimo von punktierten Fagotten (Joachim Hans und Philipp Zeller) und vitalen Streichern erquickt wurde. Klarinette und Fagott fanden sich schließlich in einem Duett wieder, das in seiner Leidenschaftlichkeit mit den Figuren eines Walter Scott vergleichbar war. Das verzückte Publikum spendete viele »Bravi!«

Dem erfrischenden ersten Teil folgte ein dramatischer zweiter. Alexander von Zemlinskys Lyrische Symphonie für Sopran, Bariton und Orchester Opus 18 erfuhr, nachgeholt zum 150. Geburtstag des Komponisten (2021), eine denk-würdige Aufführung. Veredelt wurde sie von Julia Kleiter und dem binnen kürzester Frist für den erkrankten Christian Gerhaher eingesprungenen Adrian Eröd – beide sind nicht nur im Repertoire fest verankert, sie haben bereits mehrfach mit Christian Thielemann zusammen gearbeitet. Was keineswegs so gemeint ist, daß es sich um einen Freundschaftsdienst gehandelt habe – Vertrauen, vielleicht ein Urvertrauen ist für solche Auslotungen wie am Sonnabendabend erlebt ein unschätzbarer Vorteil.

Und so konnten sich die Zuhörer gefangennehmen lassen und ein Werk hören, erspüren, daß bei aller Nähe oder Verwandtschaft zu anderen Komponisten und Kompositionen einzigartig ist, ein Solitär. Es ist – trotz mancher Parallele – kein »Lied von der Erde«, so wie Zemlinsky nicht auf Vergleiche mit Gustav Mahler oder Arnold Schönberg reduziert werden darf, auch wenn man sie zunächst bemüht, um den wenig bekannten Komponisten ungefähr einzuordnen. Modern ist Zemlinskys Klangsprache, der Text von Rabindrath Tagore – von Leidenschaft erzählend – eher kantig, läßt kaum Sinnlichkeit zu, sucht eher Trost. Alexander von Zemlinsky hat dies einzigartig in Töne gefaßt, die viele Schattierungen und Farbwechsel enthält. Das Orchester bot hier alle Künste auf, Strukturen und Farben zu verweben, quasi das Rutschen eines Gletschers festzuhalten. Es waren weniger Kantilenen oder feine Liedzeichnungen – schroff, gebirgig, mit Echohall erhob sich die Erzählung. Im vierten Lied bzw. Satz, dem ein erlkönighafter Spuk innewohnt, warnte die Tuba vor dem sich nicht erfüllenden Liebesglück …

Julia Kleiter und Adrian Eröd hatten eine kaum zu überschauende Aufgabe vor sich. Vor allem Adrian Eröd meisterte sie aber souverän mit klangsicherem, stets melodisch bleibendem Bariton. Seinem Timbre blieb noch in Abkehr und Verlust so viel leidenschaftliches Melos, daß man die Hoffnung des Schlusses (»Friede, mein Herz«) nachspüren konnte. Julia Kleiter ließ das Publikum gerade in den lyrischen Passagen mitfühlen, in den expressiven blieb ihre gestalterische Kraft bestechend, indes hatte sie der Komponist hinsichtlich einer Verständlichkeit bei (fast) vollständig spielendem Orchester praktisch vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Den Schauern tat dies keinen Abbruch.

22. Mai 2022, Wolfram Quellmalz

Wenn nicht jetzt, durch Mendelssohn angeregt, sollten Sie spätestens im Herbst wieder einmal zu einem Band von Walter Scott greifen. Aktuell gibt es allerdings nur wenige Neuauflagen, oft von Zweit- oder Drittverwertern. Immerhin findet man einige Ausgaben bei Anaconda, der Morio Verlag hat im vergangenen Jahr »Chrystal Croftangrys Geschichte« neu veröffentlicht (318 Seiten, 25 Euro). Antiquarisch (und in gutsortierten Bibliotheken) findet sich allerdings eine große Auswahl. Die NMB werden suchen, ob es etwas gibt, was ins Programm unserer Hefte paßt.

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