Prager Musiker gestalten zweites Konzert des Bachfestes Leipzig
Wenn sich Musikfeste einem Thema oder einem Komponisten widmen, kann man dieses oder diesen besonders intensiv erleben, aber auch alles, was davon ausgeht und dahin führt. »Bachs Wurzeln: I. Große ausdrückende Lamenti« lautete der Titel des ersten regulären Konzertes nach der festlichen Eröffnung des Bachfestes Leipzig. Václav Luks und seine Collegia 1704 hatten dazu in die Nikolaikirche geladen. Wer mochte, konnte vorab bereits mehr über den Inhalt erfahren: Dr. Bernd Koska hatte zu einem Einführungsvortrag in den Saal des Central Kabaretts geladen. Der war schon deshalb interessant, weil das weitverzweigte Konzertprogramm durch die Familie Bach führte, in diesem Fall – daher »Wurzeln« – nicht zu den berühmten Söhnen, sondern den Vorfahren. Manche von denen waren große Meister und wären heute berühmter, hätten sie andere Ambitionen gehabt. Zu Lebzeiten indes blieben die bescheiden, wiewohl hochverehrt, in ihrer heimatlichen Umgebung. Nicht alle gingen ein Risiko wie Johann Sebastian ein, denn in der Fremde findet sich nicht nur Ruhm und Anerkennung – sie bedeutet auch die Gefahr eines Mißerfolgs, verlangt Anpassung und viel Mühsal.
Interessant war der Vortrag nicht zuletzt deshalb, weil der spätere Konzertbesucher feststellen konnte, um wieviel imposanter und effektvoller die Aufführung des Collegium 1704 geriet. Verblüffend und kennzeichnend ist dabei, daß Václav Luks immer das musikantische hervorhebt, der Effekt nicht zum Selbstzweck gerät.
Die unterschiedlichen Werke wurden in einer höchst variablen Besetzung präsentiert, vokal wie instrumental. In Johann Christoph Bachs Kantate (kein zeitgenössischer Begriff, hatten wir gelernt, damals sagte man eher »Kirchenmusik«) »Wie bist du denn, o Gott, in Zorn auf mich entbrannt« wurde Baß Krešimir Stražanac von einem kleinen Ensemble begleitet (mit einer eindrucksvollen Nacht-Stimmung in der zweiten Strophe), das Lamento »Ach, daß ich Wassers gnug hätte« des Komponisten mit dem Altisten Alex Potter hatte einen eher stillen, innigen Charakter. Solch dezidierte Solostücke luden ein zu vergleichen, Feinheiten wahrzunehmen. Alex Potters Artikulation und Tonfarbe war ohne Fehl und Tadel, gestaltungssicher fokussierte er die »schwere Last« (der Sünden), indes schien er teilweise dennoch ein wenig kühl. Anders als Tomáš Král, der in seinem Stimmfach noch etwas blühender schien als der ohnehin prächtige Krešimir Stražanac. Vielleicht, weil Král eher Bariton denn Baß ist und in Johann Christoph Bachs Sterb-Aria »Es ist nun aus mit meinem Leben« fast tenoral leuchten durfte.
Mit Johann Bachs Motette »Unser Leben ist ein Schatten«, Nicolaus Bruhns Kantate »Ich liege und schlafe« sowie Johann Sebastian Bachs Osterkantate »Christ lag in Todes Banden« (BWV 4) zeigten sich die Prager Musiker und ihre Solisten in vielfältigen Stimmen. Sopranistin Miriam Feuersinger sorgte in der Höhe für ein Feuerwerk der Spitzentöne, noch besser gefiel sie dennoch in tieferen Lagen, weil sie hier gesanglicher, einfühlsamer wirkte und feine Piani erzeugte. Tobias Hungers Tenor wohnt ohnehin eine Leuchtkraft inne, hier konnte er sie als Solist ebenso ausspielen wie aus dem Chor heraus.
Das gehört zur Freude solcher Musikfeste, zum Vergleichen: Texte wie »Unser Leben ist ein Schatten« wurden in der Geschichte mehrfach vertont. Johann Christoph Bach hatte sie mit zwei Chören besetzt – Alex Potter, Tobias Hunger und Tomáš Král waren hinten im Altarraum aufgestellt, was für eindrucksvolle Gegensätze sorgte. Farben, Kontraste, Affekte weiß Václav Luks lebendig darzustellen, instrumental förderte er dies in Johann Adam Reinckens Sonate a-Moll nach.
Johann Sebastian Bachs Osterkantate, die heute als Frühwerk gesehen wird, mußte man gar nicht bemühen, um die dezidierten Darstellungsqualitäten des Collegium 1704 zu »beweisen«. Aber wer das Hörbeispiel aus der Einführung noch im Ohr hatte, sah dieses deutlich in den Schatten gestellt.
10. Juni 2022, Wolfram Quellmalz