Jean-Yves Thibaudet verbindet bei der Dresdner Philharmonie nicht nur Frankreich und Amerika oder Klassik und Jazz
Es gibt Menschen, Künstler, die läßt man ungern ziehen. Insofern war es bedauerlich, daß Jean-Yves Thibaudet am Wochenende bereits den letzten Auftritt im Rahmen seiner Residenz bei der Dresdner Philharmonie hatte. Es war noch dazu eine »beschädigte« oder beeinträchtigte Spielzeit, denn die Pandemie sorgte für Konzertausfälle und Programmänderungen. Was den Franzosen aber nicht davon abhielt, sich eindrucksvoll einzubringen – nach den Préludes von Claude Debussy (November) und Klaviertrios mit Lisa Batiashvili und Renaud Capuçon (Februar) standen jetzt gleich zwei Klavierkonzerte auf dem Programm: jenes von Maurice Ravel in G-Dur sowie das selten zu hörende F-Dur-Werk von George Gershwin.
Dirigent Marek Janowski schickte dem Maurice Ravels »Le tombeau de Couperin« voraus, womit das Programm eng gebunden und französisch konzentriert war – die Parallelen zwischen Ravel und Gershwin eingeschlossen. Ohnehin muß, kann und darf man feststellen, daß die Dresdner Philharmonie zu den französischsten Sinfonieorchestern Deutschlands gehört. Immer wieder gastieren Solisten und Dirigenten der westlichen Nachbarn hier, die superbe Eule-Orgel legt dem Saal des Kulturpalastes zusätzlich noch die französische Orgelsinfonik nahe – solche vielschichte Verdichtung wirkt sich aus.
Umsicht und Fokussierung wirken sich auch aus, und so ließ Marek Janowski mit dem Tombeau, das mehr dem Leben huldigt als den Tod betrauert, feinste Schattierungen, Lichtreflexe, ein luzides Klanggewebe entstehen. Es ist verblüffend, zu welchen Steigerungen die Philharmoniker unter seiner Leitung noch einmal fähig sind. Ein bißchen nuancierter, mehr Tiefe, eine ausgefeilte Dynamik, die Höhepunkte sauber herausarbeitet, sind es nicht allein. Es geht weniger um Ausführungen aus einem Lehrbuch als um einen inneren Zusammenhalt, um mehr Klangsinnlichkeit – glücklicherweise bleibt Janowski noch ein weiteres Jahr hier, aber schon heute mag man auch ihn ungern gehenlassen.
Und nach Ravels Suite kam Jean-Yves Thibaudet. Seit vielen Jahren ist er schon ein fast regelmäßiger Gast, brachte bisher (natürlich) französisches Repertoire mit, aber nicht minder anderes, wie 2015, damals noch im Albertinum, das Klavierkonzert von Aram Chatschaturjan. Musik allein hat er aber nicht im Koffer, sondern ebenso einen Schuß Extravaganz – jedoch keine, die ihn zum Geck stilisiert oder zum Popstar. Thibaudet ist fast schon eine Kunstfigur, der man die Extravaganzen aber nicht nur glaubt und abnimmt, sie gehören einfach dazu. Deshalb sei die Kleiderfrage hier einmal mit eingebunden, selbst wenn es doch »nur« um Musik geht, denn einer der Koffer, die Thibaudet dabei hatte, kam unterwegs abhanden – ausgerechnet der mit den Schuhen. Und so spielte der Pianist auch am Sonntagmorgen in der zweiten Aufführung in Turnschuhen zum seidenen Anzug. Selbstverständlich ist es eben nicht möglich, eben mal neue Schuhe zu kaufen und mit (in) ihnen Klavier zu spielen. Neue Schuhe wollen eingetragen sein (mußte ich meinen Sitznachbarn belehren), schließlich lautete der Titel von Elīna Garanča Biographie doch »Wirklich wichtig sind die Schuhe« – sie muß es schließlich wissen! In diesem Punkt sind sich Wanderer, Sopranistinnen und Pianisten praktisch gleich …
Turnschuhe also zum Seidenanzug, Maurice Ravel und George Gershwin hätten derlei Extravaganzen (oder Pragmatismus) sicher goutiert. Denn Jean-Yves Thibaudet braucht weder die Schuhe noch den Anzug, um auffällig zu sein (und muß auch nicht barfuß spielen), er kleidet die Werke, die er aus den Tasten zaubert, in raffinierte Farben, Strukturen, Steigerungen, Kaskaden – und bleibt noch in den virtuosesten Passagen elegant – das ist es doch, was zählt!
Und so ließ sich Jean-Yves Thibaudet von Marek Janowski dazu einladen, sich mit dem Orchester auszutauschen. Denn obwohl sich Ravel auf Mozart bezog und Gershwin wohl nicht wenig auf Ravel, leben ihre Konzerte nicht von Soli und Kadenzen allein – gerade die Reflexe, die zwischen den Partnern aufblitzten, machten den Reiz aus. Da formte der Pianist Wellenkämme, steigerte sie oder ließ sie sanft ausgleiten, um ihnen plötzlich mit einem einzelnen Baßton mehr Gewicht zu geben (Ravel). Doch der Fluß, die Klangsinnlichkeit wird belebt, weil sich beide Partner gemeinsam in die Fluten stürzen. Im Adagio assai spendiert Jean-Yves Thibaudet dem Sonntagmorgen ein liedhaftes Innehalten, gleichwohl eines, das innig ausfiel, um sogleich von Holzbläsern und Hörnern umfangen zu werden.
Nicht minder ergänzten sich Orchester und Klavier bei George Gershwin – im turbulenten, stürmischen Beginn, in den sich beide Komponisten stürzten, fanden Pauken und ein satter Klavierklang griffig zueinander – den Begriff »Impressionismus« darf man schließlich nicht auslatschen, auch nicht in Turnschuhen! Welcher Komponist begann eigentlich explosiver? Beiden wohnt ein ungemein hoher Impetus inne, ein Energieschub, doch erneut gelang es Marek Janowski, klangsinnig und wohlgeordnet für eine Justierung zu sorgen. Klar beherrscht die Philharmonie auch einen breiten Hollywoodsound, blieb dabei aber prägnant (statt schwülstig zu werden), natürlich konnte eine Trompete (Christian Höcherl) auch einmal richtig nach Jazz klingen – Marek Janowski sorgte dafür, daß alles zusammenblieb, keine eklektizistische Rhapsodie entstand. Am Ende fing die Cellogruppe um KV Ulf Prelle den Sound ohnehin ein – wenn man Gershwin mit so viel Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit entdeckt, findet sich manche klassische (europäische) Komponente darin.
Entdeckung und Ästhetik – war das wirklich das letzte Konzert mit Jean-Yves Thibaudet? Hoffentlich nicht!
26. Juni 2022, Wolfram Quellmalz