Pierre-Laurent Aimard spielte Olivier Messiaen in Gewandhaus zu Leipzig
Dieses Werk ist geradezu unfaßbar – »Vingt regards sur l’enfant-Jésus« von Olivier Messiaen (wörtlich übersetzt »Zwanzig Blicke auf das Jesuskind«) ist vor allem eines nicht: illustrative Musik, die aus dem Leben oder von Episoden des Jesuskindes erzählt. Vielmehr scheint es für den Hörer wichtig, sich vom Wort »Blick« zu lösen. Das französische »regard« läßt sich auch weiter fassen, als Betrachtung etwa, was Gedanken und sinnbildliches mit einschließt. Die Erwartung von »Kinderszenen« à la Robert Schumann zumindest ginge vollkommen fehl. Sich von den Titeln der zwanzig Teile zu lösen, ist sicher geeignet, einen Zugang zu finden. Trotzdem tauchen immer wieder »Bilder« auf, wie ein Weihnachtschoral (XIII. »Noël« / Weihnacht) und vor allem (wiederholt) Glockenmotive.

Pierre-Laurent Aimard dürfte mit Sicherheit einen besonderen Zugang zum Werk gewonnen haben, hat er doch nicht nur mit dem Komponisten Olivier Messiaen zusammengearbeitet, sondern einen Teil seiner Studien bei dessen Ehefrau Yvonne Loriod absolviert. Daß er mit den regards besondere Empfindungen verbindet, welche nicht zuletzt aus einer vertieften, dezidierten Auseinandersetzung mit den Stücken resultieren, war zu spüren, dennoch kann auch hier von »Nachvollziehbarkeit« kaum die Rede sein.
Messiaens einzigartiger Zyklus ist schlicht komplex, herausfordernd, beanspruchend, phänomenal. Ihn überhaupt einmal aufgeführt zu erleben, ist etwas Besonderes, was der Pianist mit seiner konzisen Interpretation noch steigerte. Denn Olivier Messiaens regards sind minimal und komplex zugleich – ein Flirren der Tasten, womit Impressionisten eine Farbigkeit beleben, hat beim Synästhetiker Messiaen über die Farbe hinaus auch einen strukturellen Wert. Pierre-Laurent Aimard wußte solche Ebenen darzustellen, sie abzuheben, Schicht um Schicht aufzuzeigen, wie sich Ausdruck, Struktur und Inhalt verweben. Oft sind es nur minimale melodische Sequenzen, mit denen die Stücke beginnen. Sie werden mehr moduliert als variiert, und doch geraten sie über Drift und Brüche in gänzlich andere Sphären. Verblüffend war, wie sinnlich, emotional, hingegeben Pierre-Laurent Aimard dies darstellen konnte – seine Zuhörer waren nicht nur staunende Betrachter, sondern waren mit eingeschlossen.
Aus vollkommener Ruhe, die Aimard abwartete, erhob sich »Regard du Père« (Blick des Vaters), schon hier führten die Akkordschichtungen und Melodie- oder Lichtreflexe vor, wie sich Ebenen einerseits definieren, anderseits verbinden. Pierre-Laurent Aimards Anschlag – hoch präzise und fein artikuliert (der Pianist stellt höchste Ansprüche an Flügel und Intonation, weshalb in der Pause nachgestimmt werden mußte) – konnte plötzlich ungemein wachsen, rauschen, expressiv werden. Manche der Stücke steigerten sich in einen Schlag oder begannen damit, wie XVIII. »Regard de l’Onction terrible« (Blick der furchterregenden Salbung), das auf das sanfte XVII. »Regard du silence« (Blick des Schweigens) folgt, seinerseits aber wieder ein Glockenmotiv (auch Glocken werden angeschlagen) einschließt.
Hier und da zeugte eine feine Ornamentik vom Naturbeobachter und Ornithologen Messiaen, wie in VIII. »Regard des Hauteurs« (Blick der Höhen) oder XIX. »Je dors, mais mon cœur veille« (Ich schlafe, aber mein Herz wacht), oft verknüpften sich strukturelle Raffinessen mit affektiven Momenten der regards – und verblüfften mit Toccaten, musikalischen Perpetua Mobila, Liedmotiven und jazzigen Passagen. Oder damit, daß eine Sequenz plötzlich zu zerfallen schien, nach einer Kontemplation aber wieder neu »zusammengesetzt« wurde und sich gar noch steigerte (IV. »Regard de la Vierge« / Blick der Jungfrau). Zudem sind die einzelnen regards ungleich gewichtet – manche überragen die übrigen in Dimension und Ausdruck, wie VI. »Par Lui tout a été fait« (Durch ihn ist alles geschaffen worden), das selbst einen Schöpfungsakt darzustellen scheint.
Über zwei Stunden dauerte der Abend, der im besten Sinne erschöpfend war und – zur größten Freude des Rezensenten – in der Pause eine Wiederbegegnung mit dem im Publikum sitzenden Alfred Brendel herbeiführte.
22. Oktober 2022, Wolfram Quellmalz
Alfred Brendel hält heute abend (19:00 Uhr) im Mendelssohn-Haus Leipzig einen Vortrag über »Naivität und Ironie. Goethes musikalische Bedürfnisse«.
http://www.mendelssohn-stiftung.de
Die nächsten Klavierabende im Gewandhaus zu Leipzig erfolgen im Duo: am 27. November spielen Nikolaj Szeps-Znaider (Violine) und Rudolf Buchbinder (Klavier) Stücke von Franz Schubert, Johannes Brahms und Ludwig van Beethoven, am 1. Mai sind Martha Argerich und Sophie Pacini zu Gast (Mozart, Liszt, Wagner).