Eine »gewöhnliche« Winterreise würde das sicher nicht. (Aber hat das Attribut »gewöhnlich« bei Franz Schuberts »Winterreise« überhaupt eine maßstäbliche Bedeutung?) Denn in der Loschwitzer Kirche trafen am Sonntag gleich verschiedene Linien in einem Punkt zusammen. So gab es neben der Musik Videos – der durch seine Reihe »Bilder der Erde« bekanntgewordene Kameramann Holger Fritzsche steuerte den Liedern kurze Filme bei, aufgenommen im verschneiten Erzgebirge, der Sänger Florian Hartfiel stammt aus einer Musikerfamilie, nicht irgend einer – gerade Loschwitz war für ihn bzw. den Großvater ein wichtiger Lebensort und Bezugspunkt. Und dann stand schließlich ein Flügel dort, von Theo Adam, mitten in der Loschwitzer Kirche, außer einem Konzert- und Gemeindeabend war also auch ein wenig Nostalgie dabei.
Und Wissenschaft. Denn der Liedbegleiter Michael Schütze begleitet eben nicht nur, er ist vor allem forschender Musikwissenschaftler und hat in der Vergangenheit schon manchen Liedernachmittag und -abend zusammengestellt. Diesmal gab es freilich keine zu einem Thema passenden Stücke auszuwählen und Pretiosen vorzustellen – die »Winterreise« ist schließlich der Liedzyklus schlechthin! Allerdings kann man – wissenschaftlich wie hörend erfahrbar – dennoch manches hinterfragen, zum Beispiel die Stimmtonhöhe des Kammertons a. Und den legten Michael Schütze und Florian Hartfiel an diesem Abend bei 432 Hz fest, spürbar tiefer als gewohnt. Der Unterschied sorgt nicht nur für eine Schonung der Stimme, die Tonhöhe soll angenehmer und verträglicher für den Zuhörer sein. Über entsprechende Nachweise gab das Programmheft Auskunft – auf das Abdrucken der Liedtexte konnte man in diesem Fall sicher verzichten.
Die dunklere Stimmung war sofort zu spüren – und ging in der Aufführung auf. Denn fortan war der Vergleich unwichtig, die Stimmung sozusagen stimmig. Florian Hartfiel konzentriert sich nach einem bewegten Lebenslauf – der ausgebildete Posaunist fügte schließlich doch noch den Abschluß als Konzert- und Opernsänger an, sanierte zuletzt aber vor allem historische Gebäude – erst vor einigen Monaten wieder auf den Gesang. Gestalterisch erreicht er nicht jene Tiefe, die man von einem Sänger kennt, der sich seit Jahren mit Schubert auseinandersetzt. Gerade dort, wo man in anderen Liederabenden vielleicht besonderes erlebt hat, blieb Florian Hartfiel im Ausdruck eher schlicht. Allerdings traf er die Stimmung, überreizte die Emotionen nicht, auch ließ er seinen Wanderer nicht in Tristesse oder Melancholie versinken. Michael Schütze verstand sich als ihm folgender Begleiter, und so fanden beide manche schöne Perle, wie »Die Krähe«, die expressiv aus der Folge herausragte und Sing- wie Klavierstimme sprudeln ließ.
Holger Fritzsches Videos folgten zum Glück dem Text nicht wortgetreu und illustrierten ihn auch nicht zu direkt. Die meist schwarz-weißen Winterlandschaften (nur hier und da schimmerte ein wenig blau-grün der Nadelbäume durch) wirkten im Verlaufe dennoch monoton – immer gleiche Bäume und Wälder, immer der gleiche durchs Bild stapfende Wanderer. Als Inspiration bot die weihnachtlich geschmückte Kirche wohl mehr. Wer sich zwischen den Texten oder ab und zu jedoch in der Stimmung fallenlassen wollte, fand in diesen Bildern sicher eine Entsprechung.
30. Januar 2023, Wolfram Quellmalz

Buch- und Hörtip: eine andere bebilderte »Winterreise« – Earbook »Winterreise (A winter journey)«, Bildband (Photographien) mit 4 CDs, neben Franz Schuberts »Winterreise« u. a. Johannes Brahms »Vier ernste Gesänge« und Lieder von Robert Schumann und Gustav Mahler, erschienen bei Edel BOOKS