Domorganist Andreas Sieling beim Dresdner Orgelzyklus
»Von Gott will ich nicht lassen« hatte Andreas Sieling, Domorganist am Berliner Dom, sein Programm gestern in der Dresdner Kreuzkirche überschrieben, und das Vaterunser als zentrales Gebet der Christenheit auch in den Mittelpunkt seines symmetrischen Programms gesetzt. Dies rückte nicht nur Georg Böhms unvergleichliche Kompositionen ins musikalische Zentrum, es erlaubte – schon der Symmetrie wegen – Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge d-Moll (BWV 538) aufzuspalten und mit ihnen den Abend zu beginnen und abzuschließen. Die Fuge sei schließlich die längste monothematische, die Bach geschrieben habe, mit der Toccata vorab wolle er in direkter Folge wolle er sie keinem zumuten, hatte Andreas im Vorgespräch augenzwinkernd gemeint – mancher Bachfreund würde da wohl widersprechen und hätte »gerne!« gesagt. Aber das Programm war genauso gut und durchdacht.
Wie immer in der Kreuzkirche gab es vorab ein Gespräch »Unter der Stehlampe« mit Kreuzorganist Holger Gehring – übrigens bei weitem nicht der einzige Organistenkollege, der dem Konzert später beiwohnen wollte. Zunächst ging es wie meist um den Weg zur Orgel, um Lebenspfade und -stationen sowie den wundersamen Zustand, daß die Sauer-Orgel am Berliner Dom heute praktisch so klingt wie zur Einweihung 1905. Dabei war das Haus 1943 durch einen Bombentreffer stark beschädigt worden, erst 1953 fanden erste Sicherungsmaßnahmen statt, in den achtziger Jahren begann der Wiederaufbau. Die Orgel war also gut zehn Jahre der Witterung und dem Vandalismus preisgegeben. Ersterer konnte sie dank ihres ungewöhnlichen Platzes jedoch trotzen: Auf kaiserliche Anordnung wurde die Orgel im Berliner Dom nicht in der West- sondern in der Nordseite des Domes untergebracht, wo sie ein erhaltener Bogen vor den schlimmsten Unwettern schützte. Somit war die erhaltene Substanz nicht nur erstaunlich gut, sondern erlaubte auch eine vollständige Rekonstruierung.
Holger Gehring lobte die Farbigkeit der Sauer-Orgel in Berlin. Diese Vielfalt – in malerischer Vielgestaltigkeit – übertrug Andreas Sieling im Konzert schließlich spielend auf die Jehmlich-Orgel der Kreuzkirche und erhob dabei die drei Choralbearbeitungen von Georg Böhm über »Vater unser im Himmelreich« sozusagen in den Rang einer Orgelsonate mit einem quasi-Andante (dem Bicinium) in der Mitte. Das à 2 claviers et pedale zuvor schien im Vergleich eine konzertante Form herauszukehren und hatte einen umfangenden Schluß, während die dritte Bearbeitung, c. f. in basso, aufstrebend und beinahe expressiv schien.
Der Vergleich mit Farbigkeit oder Malstilen lag nahe, bei Otto Dienels impressionistischen Choralbearbeitungen (»Nun ruhen alle Wälder« und »Wer nur den lieben Gott läßt walten«) ebenso wie in Jacques van Oortmerssens zurückgenommen scheinendem (innigen) »Nun ruhen alle Wälder«. Im Choralvorspiel zu Psalm 77 des gleichen Komponisten überraschte danach das musikalische Sternenfunkeln, das den Text einbettet, wenn nicht voller Zuversicht überstrahlt.
Zu Beginn (und in der Symmetrie Jacques van Oortmerssens »Nun ruhen alle Wälder« gegenüber) hatte die Orgelphantasie »Von Gott will ich nicht lassen« Bert Matters nicht nur den Programmtitel aufgegriffen, sondern den Effekt vorgeführt, wie sich Licht- und Farbschichten miteinander verbinden, in den Stimmen aber auch Eigenständigkeit gewinnen können. Nicht nur vor dieser Hörerfahrung ließen sich in Johann Sebastian Bachs Dorischer Toccata und der später nachgereichten Fuge Elemente von Stetigkeit und Struktur finden, die aber mehr für eine Lebensfestigkeit zu stehen schienen und einen musikalisch freien Atem nicht verhinderten – ein kurzweiliges Programm, das nicht nur ad hoc bereichernd war, sondern bei dem wieder einmal die Übertragung von Klangwelten auf die Jehmlich-Orgel beeindruckte!
Andreas Sielings originelle Programmzusammenstellung und seine hochwertige Spieltechnik wurde auch auf CD festgehalten und dort unter anderem mit einem Opus Klassik prämiert:
Andreas Sieling »Berlin! Orgelwerke von Berliner Komponisten«, mit Werken von Felix Mendelssohn, Otto Dienel, Franz Wagner, August Haupt und Philipp Rüfer, Super Audio CD, erschienen bei MDG.

Bei der gleichen Plattenfirma (Musikproduktion Dabringhaus und Grimm) ist soeben die neue CD von Kreuzorganist Holger Gehring und Panflötist Sebastian Pachel erschienen (beide haben wir im vergangenen Jahr im Konzert erlebt, unsere Rezension finden Sie hier: https://neuemusikalischeblaetter.com/2022/08/07/panflote-trifft-jehmlich-orgel/). Eine ausführliche Besprechung dieser Aufnahme folgt in Kürze.
Domorganist Andreas Sieling ist offenbar nicht nur technisch – auch in bezug auf die neuen Medien – versiert, sondern »von der schnellen Sorte«. Einen eigenen YouTube-Kanal finden Sie auf seiner Internetseite. Und die hat eine griffige Adresse (da mußte Andreas Sieling schnell »schalten«, um sich diese zu sichern!):
Im nächsten Konzert des Dresdner Orgelzyklus spielt Samuel Kummer am kommenden Mittwoch (10. Mai) in der Hofkirche (Kathedrale) Werke von Johann Sebastian Bach, Christian Heinrich Rinck und Wolfgang Amadé Mozart. Außerdem wird er improvisieren.